Essen. Zahlreiche Anrufer bei der Essener Telefonseelsorge beschäftigen sich mit dem Ukraine-Krieg. Manche plagt die Angst vor einem dritten Weltkrieg.

Der Krieg in der Ukraine beschäftigt und verstört viele der Menschen, die sich an die Ökumenische Telefonseelsorge in Essen wenden. Die Entwicklung entspreche dem bundesweiten Trend, sagt Leiterin Elisabeth Hartmann. Besonders betroffen seien Senioren und Seniorinnen, die den Zweiten Weltkrieg noch als Kinder und Jugendliche erlebt haben.

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Die 120 Ehrenamtlichen und vier Hauptamtlichen der Essener Telefonseelsorge nehmen jährlich etwa 27.000 Anrufe entgegen, aus denen sich gut 22.000 seelsorgliche Gespräche ergeben. Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar bewegte viele Anrufer die Situation in der Ukraine, aber auch die eigene Furcht. „Eine Anruferin fragte sich sogar, ob sie eine Waffe anschaffen solle“, erzählt Hartmann. Zeitweilig wurde das Thema in 20 Prozent der Gespräche angesprochen. „Ältere Menschen erinnert dieses schlimme Ereignis an eigene Kriegserfahrungen, die sie heute wieder einholen und ängstigen.“

Viel Mitleid für die Menschen in der Ukraine

Andere Anrufer und Anruferinnen kennen Krieg zwar nur aus Erzählungen, seien aber durch die Bilder und Berichte in Medien beunruhigt. „Sie haben Angst vor einem Atomkrieg, fürchten den Ausbruch eines dritten Weltkrieges. Sie wissen nicht, wie sie sich schützen sollten, wenn der Krieg sich auf unser Land ausweiten sollte“, berichtet die Leiterin der Telefonseelsorge. Manche äußerten Wut auf die Politik, von der sie sich im Stich gelassen fühlten. In den ersten Wochen nach dem Kriegsbeginn sei das Thema Ukraine bei fast allen Anrufern mit Angst verbunden gewesen.

Seit der Ukraine-Krieg in Radio, Fernsehen und sozialen Medien allgegenwärtig sei, nehme die Zahl der Anrufer ab, die sich konkret mit den Geschehnissen befassen. Wie zu Beginn der Corona-Pandemie erlebe man jedoch, dass auch das Thema Ukraine-Krieg einen Verstärker-Effekt für andere Themen hat, die die Menschen bewegen. „Manchen wird jetzt die Endlichkeit des Lebens bewusst. Sie beschäftigen sich mit dem Tod und fragen nach dem Sinn des Lebens.“ Brunnen-Gespräche nennt Elisabeth Hartmann das, weil sie so in die Tiefe gehen. Einen intensiven Austausch über existenzielle Fragen gebe es vielfach bei der Mail-Seelsorge, die sich oft über einen längeren Zeitraum erstrecke.

Junge Menschen rufen nicht an – sie melden sich per Mail

Das Angebot, sich per Mail auszutauschen werde gern von Menschen zwischen 20 und 40 Jahren genutzt, während Angehörige der mittleren und älteren Generation überwiegend das Telefon wählten, um über ihre Angst zu sprechen oder etwa über ihr Unverständnis gegenüber dem russischen Präsidenten oder gegenüber russisch-stämmigen Freunden, „deren Weltsicht sie nicht verstehen“.

Tag für Tag und rund um die Uhr erreichbar

Die Ökumenische Telefonseelsorge Essen ist eine von bundesweit über hundert Stellen, die kostenlos, rund um die Uhr und an allen Tagen des Jahres Anrufe von Menschen jeden Alters, jeder Religion und Weltanschauung entgegennehmen: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222. Sie wird vom Kirchenkreis Essen und dem Caritasverband Essen getragen.

Das Team der Telefonseelsorge freut sich, dass sich aktuell viele Menschen für eine ehrenamtliche Mitarbeit beworben haben. So können in diesem Jahr zwei Ausbildungsgruppen eingerichtet werden. Weitere Infos auf: telefonseelsorge-essen.de

Andere möchten den Flüchtlingen helfen oder berichten von Nachbarn und Verwandten, die schon Ukrainer aufgenommen haben. „Manche fragen sich, wenn sie im warmen Bett aufwachen: ,Darf ich mein Leben genießen, während andere Menschen leiden?’“ Das Team der Telefonseelsorge versuche ihnen deutlich zu machen, dass Mitgefühl wichtig sei, dass es aber erlaubt sei, das Gute zu genießen: „Schon weil man daraus Kraft schöpft für das Dunkle.“

Mit einem guten Wort in den Tag starten

Als extrem belastend empfänden psychisch kranke Menschen den nahen Krieg. Auch in ruhigeren Zeiten haben fast 40 Prozent der Anrufer eine Diagnose; und einige rufen allmorgendlich an, um „mit einem guten Wort“ die Kraft zu finden, in einen neuen Tag zu starten. In einen Alltag, der für sie nun oft auch sehr handfeste Probleme bereithält. Berührt habe sie etwa die Anruferin, die nach einer Mieterhöhung nicht wisse, ob sie in ihrer Wohnung bleiben könne, „obwohl sie Lebensmittel bei der Tafel holt und nur einmal wöchentlich duscht, um zu sparen“.

Häufig hätten schon sehr junge Menschen aufgrund ihrer Psychose ihre Träume von Beruf, Partnerschaft und Familie für immer begraben. „Wenn man das hört, wird man bescheiden und geht dankbar nach Hause.“