Bochum. Das Bochumer Schauspielhaus mal weniger schwerblütig: Der Liederabend „Mit anderen Augen“ reißt das Publikum mit. Sein Thema: Blindheit!

War dies der berühmte Gordische Knoten, der am Samstagabend im Bochumer Schauspielhaus durchschlagen wurde? Seit nunmehr dreieinhalb Jahren wird dem niederländischen Regisseur Johan Simons unterstellt, dass seine gewiss ansehnliche Intendanz unter einem gehörigen Hang zur Schwermut leidet. Sperrige Stoffe, beinhart serviert: Nicht selten verlässt man das Theater wie vom Kunstgenuss geprügelt.

Dass dem Spielplan eindeutig die nötige Leichtigkeit fehlt, merken vor allem all jene gerne an, die Simons’ anstehende Vertragsverlängerung bis 2026 eher kritisch beäugen. Doch die Theatermacher an der Königsallee sind lernfähig, wie jetzt ein schillernder Liederabend in den Kammerspielen beweist, der von den Premierengästen frenetisch bejubelt wird. Auf eine solch beglückende Aufführung hat man in Bochum eine Weile gewartet.

„Mit anderen Augen“ ist ein Liederabend zum Thema Blindheit

Doch ist „Mit anderen Augen“ kein billiges Gute-Laune-Stück. In artifiziellem Setting stellt sich die Regisseurin Selen Kara einem Thema, das von den Theatern bislang erstaunlicherweise weitgehend unentdeckt geblieben ist: der Blindheit. In langen Gesprächen mit blinden und sehbehinderten Menschen ergründete sie deren Situation und erschuf daraus eine feinfühlige Szenencollage aus Texten, Bildern, Klängen und viel Musik. Denn dass auch Blinde eine Menge Erhellendes über ihren Alltag zu berichten wissen, ist eine schöne Botschaft dieses hoffnungsfroh stimmenden Abends, dem die tragische Seite eines Lebens in Dunkelheit weitgehend fremd ist.

Dabei macht sich Selen Kara konsequent ans Werk: Die ersten Minuten ihrer Aufführung finden auf komplett schwarzer Bühne statt. Man hört nicht viel mehr als einige Stimmen und zaghafte Klänge aus der Ferne, aus denen sich ganz langsam der Jahrhundertsong „The Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel herausschält. Danach wird die Bühne (von Lydia Merkel) zwar etwas heller, aus unwirklichen Schatten werden langsam Menschen, doch direkt ins Gesicht schaut man ihnen erst beim Schlussapplaus. Folien wie aus Milchglas und zuckende Lichtblitze sorgen für eine merkwürdige, aber auch wohlige Atmosphäre. Besonders erwähnt sei das ausgeklügelte Lichtdesign von Denny Klein, der dieser Aufführung jeglichen Anflug von Farbe ausgetrieben hat.

Zeitlose Lieder, hinreißender Charme: Bochums Schauspielhaus mal ganz anders

Begleitet wird die Szenerie von einer akustischen Bildbeschreibung: „Auf der Bühne befinden sich jetzt acht Personen im Gegenlicht“, wird nüchtern erklärt. Vier Musiker und vier Schauspielerinnen und Schauspieler sind es, von denen einer (der Pianist Jörg Siebenhaar) tatsächlich blind ist. Gemeinsam erzählen sie, was plötzlicher Sehverlust etwa nach einem Unfall mit einem Menschen macht und wie es sich anfühlen muss, wenn die Welt nur noch aus Licht und Schatten besteht, wenn ein Windzug im Gesicht plötzlich eine ganz andere Bedeutung bekommt: „Ein schöner Tag ist ein Tag mit einer leichten Brise“, sagt jemand, was eine wirklich anrührende Feststellung ist.

So wird die Musik zum wichtigen Bestandteil dieser Aufführung: Torsten Kindermann und Jan-Sebastian Weichsel, die zusammen bereits das legendäre „A Tribute to Johnny Cash“ ausgeheckt haben, werfen eine Reihe von Songs in die Runde, die thematisch halbwegs passen und fantastisch instrumentiert sind. Gemeinsam mit dem stimmstarken Ensemble (Michael Lippold, Karin Moog, Anne Rietmeijer und Romy Vreden) werden Wasserflaschen und Weingläser zum Klingen gebracht, das harmoniert mit hinreißendem Charme. Es gibt zeitlos schöne Lieder von Ray Charles und Cyndi Lauper – und sogar dem dröhnenden Disco-Hit „Free your mind“ von En Vogue ringen sie ungeahnte Tiefe ab.

Stehende Ovationen!