Essen. RWE-Vorstand Marcus Uhlig über die besondere DNA von Rot-Weiss Essen, über die Folgen des Böllerwurfes und ein „unmoralisches Angebot“.
Rot-Weiss Essen erfährt in diesen Tagen viel Aufmerksamkeit. Sportlich läuft es vielversprechend für den Traditionsverein von der Hafenstraße. Der von den Fans so ersehnte Aufstieg in die 3. Liga – er könnte tatsächlich gelingen. Abseits des Rasens sorgte RWE zuletzt aber auch für negative Schlagzeilen. Der „Böllerwurf“ eines Chaoten im Stadion an der Hafenstraße brachte den Verein in Verruf und weckte Erinnerungen, als es um das Image des Clubs nicht zum Besten stand. Wie sieht RWE-Vorstand Marcus Uhlig die Entwicklung des Traditionsvereins? Mit Marcus Uhlig sprach Marcus Schymiczek.
Herr Uhlig, durch den „Böllerwurf“ beim Heimspiel gegen Preußen Münster und den dadurch provozierten Spielabbruch stand Rot-Weiss Essen bundesweit in den Schlagzeilen – leider im negativen Sinne. Inwieweit hat der Vorfall den Verein zurückgeworfen?
Marcus Uhlig: Der Böllerwurf war zunächst einmal eine absolut dumme Tat eines Einzelnen, für die es keine wirkliche Erklärung und erst recht keine Entschuldigung gibt. Uns als Verein wurde dadurch ein Bärendienst erwiesen – sportlich, finanziell und auch, was unser Image angeht. An der Hafenstraße geht es mitunter etwas wilder und leidenschaftlicher zu, aber es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Wir werden alles, was möglich ist, dafür tun, damit sich so etwas nicht wiederholt.
Bleiben wir beim Image. Eine überregionale Tageszeitung hat jüngst geschrieben, es sei nur wenigen Vereinen so gut gelungen, den „abgerockten Bergbau-Charme“ zu erhalten wie Rot-Weiss Essen. Finden Sie das treffend beschrieben?
Ob der abgerockte Bergbau-Charme die richtige Beschreibung ist? Na ja. Aber man weiß ja, was damit gemeint ist. Rot-Weiss Essen ist halt ein ganz besonderer Verein. Hier riecht es nicht aus jeder Pore nach dem modernen, durchgestylten, durchchoreographierten Fußball. Und das ist auch gut so!
Sie vermarkten Rot-Weiss Essen als „Schützenswertes Kulturgut seit 1907“. Worin besteht das Schützenswerte?
Ich bin ja selbst Fan und Fußballnostalgiker, der sagt: Vereine wie wir oder auch Eintracht Braunschweig, Kickers Offenbach oder meinetwegen auch Sachsen Leipzig haben aus ihrer Geschichte, aus ihrer Tradition eine ganz besondere und unterscheidbare DNA entwickelt. Die muss geschützt, die muss erhalten bleiben. Es ist eben ein Unterschied, ob man sich aus reinem Marketing-Kalkül als Verein des Reviers, der Kumpel und des Bergbaus in Hochglanz-Marketingbroschüren vermarktet, oder ob man diese DNA auch lebt. Ich behaupte, uns als Rot-Weiss Essen ist Letzteres bislang sehr gut gelungen.
Kann Tradition auch bremsen?
Die Tradition und das Besondere von RWE, dass sich über Jahrzehnte entwickelt hat, müssen wir achten und bewahren. Das darf uns aber gleichzeitig auch nicht bremsen. Dieser verklärte, sehnsuchtsvolle Blick zurück, nach dem Motto „Früher war doch alles besser, denn heute spielen wir nur in der vierten Liga und da kommen wir doch eh nie wieder raus“ – diese viel zu rückwärtsgewandte Sicht ist Gift für jede Weiterentwicklung.
Zur Person
Marcus Uhlig ist seit November 2017 Vorstandsvorsitzender von Rot-Weiss Essen und Nachfolger von Michael Welling, der den Traditionsverein sieben Jahre lang führte. Uhlig, 51 Jahre alt, kennt sich aus im Fußballgeschäft, von 2011 bis 2015 war er Geschäftsführer von Arminia Bielefeld. Marcus Uhlig stammt aus Kamp-Lintfort, schon als Kind war er Anhänger von Rot-Weiss Essen. Die Spiele seines Vereins verfolgt er auch als Fan, der mitfiebert. Bei Heimspielen im Stadion Essen habe er deshalb keinen festen Platz.
Tradition bewahren, das klingt erstmal positiv…
Der Begriff „Tradition“ ist mir zu rückwärtsgewandt, DNA trifft es besser. Darin gespeichert sind 115 Jahre Vereinsgeschichte.
Der etwas abgerockte Bergbau-Charme klingt ja charmant. Aber wie kann es Ihnen gelingen, ein breiteres Publikum zu begeistern?
Genau das ist unsere Aufgabe. Dass wir nach vorne denken, den Verein weiterentwickeln, dass wir neue Fans hinzugewinnen. Aber nicht, indem wir ein austauschbares Produkt anbieten, das ich als Zuschauer auch in Leverkusen, in Hoffenheim oder sonst wo bekomme. Wer zu uns an die Hafenstraße kommt, soll etwas Besonderes spüren und erleben, das eben nicht austauschbar ist. Trotzdem wollen auch wir moderne Wege gehen. Ein Beispiel: Immer mehr Fußballvereine gründen Kids Clubs. Dabei geht es um junge Zielgruppen. Darum, Kinder und Jugendliche möglichst früh mit dem „RWE-Gefühl zu infizieren“, sodass eine starke Bindung entsteht.
Dass der Vater die Liebe zu RWE an die nächste Generation weitergibt, das funktioniert nicht mehr?
Es funktioniert, obwohl Rot-Weiss Essen, seit über einem Jahrzehnt sportlich nicht mehr überregional wahrgenommen wird. Wenn Sie in Altenessen, Borbeck oder auch in Bredeney an eine Schule gehen, werden Sie im Sportunterricht immer auch mindestens ein oder zwei Kinder in RWE-Trikots finden – neben den vielen anderen, die Trikots von Paris St. Germain, Liverpool, Dortmund oder den Bayern tragen. Hier gibt es noch diese jungen RWE-Fans, die deshalb RWE-Fans geworden sind, weil sie von ihrem Vater mit ins Stadion genommen worden sind, und der Vater wiederum von seinem Vater, also dem Opa des Kindes. Das funktioniert hier noch, aber es funktioniert insgesamt im modernen Fußball immer weniger. Auch dafür braucht man den dauerhaften sportlichen, überregionalen Erfolg.
Auf diesen Erfolg warten RWE-Fans seit mehr als einem Jahrzehnt.
Richtig. In Essen gibt aber viele Menschen, die sind nicht nur Fans, sondern – so sagt man hier – „Rot-Weiße durch und durch“. Es ist manchmal schwer, zu erklären, wie tief und bisweilen auch irrational diese Liebe zu Rot-Weiss Essen ist. Der Verein hat es geschafft, über Jahrzehnte eine besondere Anziehungskraft, ein besonderes Gefühl zu entwickeln und ganz fest zu verankern. Das meine ich mit DNA, die wir schützen, die wir erhalten und vertiefen wollen. Trotzdem müssen wir dabei nach vorne schauen und die Wahrscheinlichkeit auf sportlichen Erfolg erhöhen. Wenn uns beides gelingt, ist das eine glänzende Voraussetzung für die Zukunft.
Je weiter es im Fußball sportlich aufwärts geht, desto mehr geht ums große Geld. Müsste auch RWE da Kompromisse eingehen?
Möglich. Aber das ist kein Thema, mit dem wir uns aktuell näher auseinandersetzen müssen. Wir wollen einen Schritt nach dem anderen gehen. Sicher ist aber: Umso breiter man wirtschaftlich aufgestellt ist, desto weniger Gefahr läuft man, dass man sich irgendwann mit dem Teufel ins Bett legen muss.
Schalke 04 spielt in der Veltins-Arena, Borussia Dortmund im Signal-Iduna-Park. Rot-Weiss Essen spielt im „Stadion an der Hafenstraße“, wie es neuerdings heißt. Nehmen wir an, es käme ein Versicherungskonzern mit einem „unmoralischen Angebot“ auf Sie zu: Der Konzern bietet Millionen, um das Stadion XY-Arena zu nennen. Könnte Rot-Weiss Essen da Nein sagen?
Das ist eine gemeine Frage. Ich würde sie gerne indirekt beantworten. 2021 hatten wir drei Möglichkeiten: Wir lassen alles geschehen. Dann hätte dieses Stadion eine x-beliebige Werbeeinnahme eines Unternehmens bekommen, und wir hätten davon nichts gehabt. Oder aber: Wir hätten sagen können, wir kaufen das Namensrecht Namen und verkaufen es Gewinn bringend weiter. Wir haben uns aber für einen anderen Weg entschieden: Wir haben die Namensrechte erworben und einen Namen gewählt im Sinne der ganzen rot-weißen Familie, der Tradition des Standortes und damit auch der Stadt Essen: „Stadion an der Hafenstraße“. Gleichzeitig erzählen wir eine nachhaltige Story, indem wir Stadionpatenschaften anbieten. Das ist genau das, was ich meine: Wir bewahren das Besondere, und gehen gleichzeitig in die Zukunft und versuchen mit dieser Story einen wirtschaftlichen Erfolg für den Verein zu erzielen. Wo jeder sagen kann: Hey, ich war dabei, ich habe geholfen, es ist auch ein stückweit mein Stadion.
Wie viele RWE-Fans unterstützen die Idee?
Uns unterstützen bislang gut 2200 Stadionpaten und vier Unternehmen. Wir sind damit wirtschaftlich ungefähr bei einer schwarzen Null. Alles, was jetzt obendrauf kommt, ist ein echter Gewinn für Rot-Weiss Essen.
Dass es ein Angebot geben könnte, dass Sie nicht ablehnen können, wollen Sie aber nicht ausschließen?
Wir haben für die kommenden fünf Jahre erst einmal Fakten geschaffen. Was danach kommt, werden wir sehen. Ich schaue ungern zu weit in die Zukunft und würde stattdessen gerne erst einmal von der vierten in die dritte Liga aufsteigen. Wir sind angetreten, um Rot-Weiss Essen weiterzuentwickeln. Das ist uns – denke ich – bei der Frage des Stadionnamens sehr gut gelungen und auch bei der Frage nach einer möglichen Ausgliederung und einem Verkauf von Anteilen. Wir haben uns klar dagegen entschieden, sondern für Rot-Weiss Essen als eingetragener Verein. Mit Sascha Peljhan haben wir stattdessen einen strategischen Partner an Bord geholt. Nach nunmehr zweieinhalb gemeinsamen Jahren können wir sagen, dass es genau der richtige Weg war und ist.
Sascha Peljhan, Gründer eines erfolgreichen Mode-Labels, hält RWE finanziell den Rücken frei. Da hatten Sie auch Glück.
So eine Konstellation haben wir gesucht und dann auch gefunden. Aber natürlich gehörte dazu auch Glück. Vielleicht war es ja das Glück des Tüchtigen (lacht).
In England bejubeln Fans des Traditionsvereins Newcastle United den Einstieg eines milliardenschweren Fonds aus Saudi-Arabien als Investor.
England ist in dieser Hinsicht ein beinahe komplett ungezügelter Markt. Dort ist es üblich, dass Vereine sich komplett im Eigentum von Privatpersonen, Unternehmen oder Konsortien befinden. Da kommt man schnell ins Politische. Schurkenstaaten kaufen Vereine, um ihr Image reinzuwaschen. Es gibt auch viele Fans, die sind verzweifelt, weil die Besitzer Dinge machen, die der DNA des Vereins komplett widersprechen. Das wird in Essen nicht passieren, das darf hier nicht passieren. Dafür müssen wir sorgen.
Sie haben den Stadionnamen übernommen. Wie wäre es mit dem kompletten Stadion?
Wir arbeiten mit dem Betreiber, der städtischen GVE, vertrauensvoll zusammen. Das hat sich in den vergangenen Jahren sehr verbessert. Wir haben gemeinsam viele Dinge hinbekommen: zuletzt die Neuordnung der Gästetribüne und die LED-Anzeigentafel. Natürlich beschäftigen wir uns permanent mit der Frage, wie wir das Stadion gemeinsam weiterentwickeln können. Wir bräuchten mehr Logen; wir sind auf dieser Ebene ausverkauft. In der vierten Liga! Unsere Geschäftsstelle platzt aus allen Nähten, unser Fanshop ist zu klein. Oder Kleinigkeiten wie Abstellmöglichkeiten für Getränke unter den Tribünen. Außerdem gibt es aus der Fanszene diverse gute Ideen, wo wir versuchen, Möglichkeiten zu finden, diese umzusetzen. Natürlich könnte man vieles besser planen, wäre man selbst Eigentümer. Aber man darf sich als Verein auch nicht übernehmen. Ein Stadion kann einen auch erdrücken. Wir gehen lieber kleine Schritte.
Beim Marketing gehen sie neue Wege. Vor jedem Spieltag gibt es Sonderangebote aus dem Fanshop aufs Handy.
Der Digitalisierungsprozess macht auch vor Rot-Weiss Essen nicht Halt. Aber auch da gilt es, das Rad nicht zu überdrehen. Das ist genau der Spagat. Rot-Weiss Essen lebt davon, viele Menschen zu begeistern und letztendlich viele Menschen dazu zu bringen, mit gutem Gewissen auch Geld für Rot-Weiss Essen auszugeben. Es mag Leute geben, die meinen, wir werden gerade zu kommerziell. Ich finde das nicht. Man muss bestimmte Wege einschlagen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Aber es gibt eine rote Linie, die wir nicht überschreiten werden. Wir machen nicht jede Abart des modernen Fußballs mit. Wir sind nicht käuflich und wir wollen nicht in einer beliebigen XYZ-Arena spielen. Wir sind unseren eigenen Weg gegangen im Geiste der RWE-DNA. Hier soll nicht der eine Große alles regeln mit seinem Geld, sondern im Bestfall die gesamte große RWE-Familie, wo jeder ein bisschen gibt.