Essen. „Das Undenkbare denken“, so hat es der OB formuliert. Aber gewappnet ist die Stadt für Katastrophen aller Art nur bis zu einem gewissen Punkt.
Wo im Falle eines Falles eigentlich ihr Platz im Essener U-Bahn-Tunnel ist? Über Anfragen wie diese hätte man sich vor drei Wochen noch eher lustig gemacht. Jetzt wandelt sich das vermeintlich Absurde zur berechtigten Sorge, eine, die Bürgerinnen und Bürger angesichts des Kriegs in der Ukraine und Putinscher Drohgebärden per Mail im Rathaus, bei der Personalversammlung der Stadt oder auch gegenüber der Redaktion äußern. Bunkermentalität, falls „der Feldherr aus Moskau seine Aktivitäten weiter ausdehnen möchte“, wie ein Leser aus Werden es sarkastisch formuliert: „Wäre doch einmal sehr interessant zu wissen wie es da in Essen bestellt ist. Ich glaube, das wird sehr ernüchternd sein.“
Wohl wahr.
Bedarfspläne für den Fall der Fälle
Als Stadt für Krisen aller Art gewappnet zu sein, dies hat sich Ordnungsdezernent Christian Kromberg bereits seit einigen Jahren zum Ziel gesetzt – und wird immer wieder von der Realität eingeholt.
Erreichen will er dies unter anderem mit Bedarfsplänen, bei denen er anhand verschiedener Szenarien das Notwendige dem Vorhandenen gegenüber stellt – unabhängig von der Frage, welche Kosten dies auslösen würde.
Für die Feuerwehr gibt es einen solchen Plan bereits, es folgen der Katastrophenschutz und der Rettungsdienst, wobei die Hochwasser-Katastrophe im Ahrtal dafür sorgte, dass der Rettungsdienst nach hinten geschoben wurde.
Noch robbt sich die Stadt vorzugsweise hinter den Kulissen an das Thema heran und lässt Platz, um zwischen den Zeilen zu lesen: „Wir müssen uns daran gewöhnen, das Undenkbare zu denken“, sagte etwa Oberbürgermeister Thomas Kufen vergangene Woche zur ukrainischen Generalkonsulin, und das Verschwommene dieses Satzes war wohl eher Absicht als Zufall. Auch Christian Kromberg, Essens Mann für Recht, öffentliche Sicherheit und Ordnung im Verwaltungsvorstand, ist anzumerken, dass er nur ungern das Wort vom V-Fall in den Mund nimmt, dem Verteidigungsfall. Also muss man ihn direkt fragen: Herr Kromberg, ist der Zivilschutz in Essen im Ernstfall ernst zu nehmen?
Kromberg sagt: „Jein.“
Eine schlagkräftige Feuerwehr als eine Art Rückgrat für alle großen Problemlagen
Für das Ja in diesem Hybrid-Begriff spricht seine grundsätzliche Überzeugung, Essen sei für Katastrophen aller Art durchaus gut gewappnet, solange sie eine gewisse Größenordnung nicht überschreiten: allem voran mit einer schlagkräftigen Feuerwehr, die als eine Art Rückgrat für alle großen Problemlagen dient – egal ob Hochwasser oder Großbrände, Sturmereignisse oder großflächige Evakuierungen.
Feuerwehr-Direktor Thomas Lembeck stimmt zu: Noch sind sie schließlich mit allem fertig geworden, und wenn denn die klare Überforderung der heimischen Kräfte den Katastrophen-Fall definiert, dann gab’s den allenfalls nach dem Pfingststurm Ela 2014, wo Essens Wehr Hilfe von außen brauchte.
Ansonsten jedoch: alles im Griff. Für konventionelle Großlagen sowieso, aber selbst für Spezialfälle, denn auch eine Analytische Task Force (ATF) gehört zur Belegschaft, eine Einsatzgruppe, die gerufen wird, wenn irgendwo gefährliche Substanzen vermutet werden wie erst vergangenen Mittwoch beim kurzzeitigen ABC-Alarm in Rüttenscheid.
Ein Bedarfsplan soll die Lücken beim Katastrophenschutz schonungslos offenlegen
Für das Nein im „Jein“ stehen die offenkundigen Lücken im alten System: In Teilen werden sie bereits gestopft, wie etwa beim Aufbau eines stadtweiten Warnsystems per Sirenen: 39 sind schon installiert oder gerade im Aufbau, weitere 37 sollen folgen. Und Nachholbedarf sieht Kromberg vor allem auf jenen Feldern, die mit „hybriden Bedrohungen“ umschrieben werden: Hacker-Angriffe auf die kritische Infrastruktur zum Beispiel oder Desinformations-Kampagnen, mit denen das Vertrauen in den Staat und seine Organe untergraben werden soll.
Gut, wenn man dann einen Plan hat. Schlecht, wenn der sich nicht in die Tat umsetzen lässt. Um mögliche Versäumnisse in Essen zu beheben, hat die Stadt deshalb vor einigen Wochen einen Bedarfsplan für den Katastrophenschutz in Auftrag gegeben. Für insgesamt acht beispielhafte Katastrophen-Szenarien soll die „Lülf+ Sicherheitsberatung“ aus Viersen aufzeigen, wie gut Essen vorbereitet ist – und wo die Stadt nachbessern muss.
„Es will nicht in meinen Kopf, dass wir uns um so etwas noch einmal kümmern müssen“
Ende März, Anfang April soll das Gutachten fertig sein, ergänzt um ein neuntes Kapitel, das Ordnungsdezernent Kromberg erst vor wenigen Tagen bei den Autoren sozusagen „nachbestellt“ hat. Tag vier des russischen Einmarsches in die Ukraine war’s und Kromberg in der Kirche, „als es bei mir Klick gemacht hat": Den Zivilschutz hatte man beim Auftrag ausgespart, zu abwegig schien jenes Szenario, das seit nunmehr zwölf Tagen eine TV-Sondersendung nach der anderen jagt und von dem Feuerwehr-Chef Thomas Lembeck noch heute sagt: „Es will nicht in meinen Kopf, dass wir uns um so etwas noch einmal kümmern müssen.“
Was keine Einzelmeinung ist, sondern seit Jahr und Tag offizielle Linie Deutschlands: „Experten gehen heute von einem Schadenszenario ohne Vorwarnzeit aus“, so betont das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), „daher können Schutzräume der Bevölkerung keine ausreichende Sicherheit bieten“. Die Folge: Der Bund beschloss schon 2007 einvernehmlich mit den Ländern, die bestehenden öffentlichen Schutzräume nach und nach aus der Zivilschutzbindung zu entlassen.
Dem Ordnungsdezernenten ist es wichtig, „keine Angst zu schüren“
Und so sind von 19 noch existierenden Hochbunkern in Essen nur noch zwei in städtischer Hand: an der Eisernen Hand im Ostviertel, gleich neben der Feuerwehr-Zentrale, und an der Germaniastraße in Borbeck-Mitte. Die anderen: vermietet oder in privater Nutzung. Hinzu kommen einige wenige Behördenbunker im Bundeseigentum wie etwa am Hauptbahnhof oder unter der Agentur für Arbeit am Berliner Platz.
Angesichts einer Essener Bevölkerung knapp unter der 600.000er-Marke nicht der Rede wert und wohl auch nicht wirklich funktionsfähig, wie Kromberg einräumt: Da der Bund seit fast 20 Jahren kein Geld mehr für Wartung und Instandsetzung locker macht, kann sich niemand auf den Schutz verlassen.
Ein Drama? Dem Ordnungsdezernenten ist wichtig, „keine Angst zu schüren“. Es gebe halt Szenarien, „da muss man über keinen Schutz mehr nachdenken“. Und er erzählt augenzwinkernd, dass ihn mal eine Essener Familie ansprach, sie habe seit einem seiner Vorträge zur Eigenvorsorge ein Regal mit Vorräten, Kerzen und dergleichen im Keller, das hätten sie in bester Ikea-Manier „Kromberg“ genannt.
Auch er hat sich im Internet jetzt ein Kurbelradio bestellt, eines für unter 100 Euro, bei dem man mit überschaubarer Muskelkraft den Strom selbst erzeugt und an einer USB-Buchse sogar noch ein Handy aufladen kann.
Man weiß ja nie.