Essen. Essener Bürger russischer Herkunft fürchten, die öffentliche Meinung könnte sich wegen Putins Angriff auf die Ukraine auch gegen sie richten.

Die einen stammen aus der Ukraine, die anderen aus Russland, nicht wenige haben familiäre Wurzeln in beiden Ländern. „Sie sind alle gleichermaßen in Schock und in Sorge.“ So beschreibt Martin Schneider, Vorsitzender des Vereins Rhein-Ruhr-Russland Essen, der sich für den kulturellen Austausch engagiert, die vorherrschende Stimmung unter Menschen aus der Ukraine und aus Russland, die in Essen leben, nicht wenige seit Jahrzehnten.

Die Herkunft habe nie eine Rolle gespielt, dass Putin einen Krieg vom Zaun brechen würde habe niemand erwartet. Bestürzung und Betroffenheit seien groß. Menschen fürchten um ihre Verwandten, während Putin junge Wehrpflichtige in den Krieg schickt.

Anonymer Hetzbrief gegen Russen aus dem Internet sorgt für Verunsicherung

Eine große Mehrheit dürfte Putins Krieg als großes Unrecht sehen. Und doch wächst unter in Essen lebenden Menschen mit russischen Wurzeln die Sorge, die öffentliche Stimmung könnte sich auch gegen sie wenden. Ein anonymer Hetzbrief findet per Messengerdienst derzeit offenbar rasche Verbreitung. Der unbekannte Verfasser des Schreibens fordert russischstämmige Bürger auf, die Koffer zu packen und zu verschwinden. Die Postleitzahl deutet auf einen Absender in Trosslingen in Baden-Württemberg hin, was nichts daran ändert, dass die Zeilen auch hier für Unruhe sorgen. Oberhausen liegt deutlich näher. Dort wurde ein russisches Lebensmittelgeschäft Opfer eines Farbanschlages, Bilder davon werden ebenfalls per Whatsapp geteilt.

„Wir beobachten das mit Sorge“, sagt Martin Schneider zur aktuellen Stimmungslage. In sozialen Medien wird bereits die Frage aufgeworfen, warum sich russischstämmige Bürger nicht öffentlich gegen Putin stellen. Außer acht gelassen werden dabei verwandtschaftliche Beziehungen nach Russland und der Umstand, dass dort drastische Strafen drohen, wer auch nur öffentlich das Wort „Krieg“ in den Mund nimmt. Die Repressionen des Staates nehmen zu.

OB Kufen zeigt sich nach Gespräch mit russischer Austauschstudentin betroffen

In einem Gespräch mit Vertretern der Deutsch-Russischen Gesellschaft mit Oberbürgermeister Thomas Kufen gab eine russische Studentin, die ein freiwilliges soziales Jahr in Essen verbringt, Einblicke in ihr Seelenleben. Die junge Frau habe sich dafür bedankt, dass Bürger für den Frieden demonstrieren, in ihrer Heimat sei dies so nicht möglich. Sie habe auch ihre Angst zum Ausdruck gebracht, dass Russinnen und Russen nun gehasst würden und dass die Sorge groß sei, auch aufgrund der Sprache und der darauf schließenden Herkunft, angefeindet zu werden, berichtet Stadtsprecherin Silke Lenz. In sozialen Medien habe die Studentin entsprechende Kommentare bereits gelesen. „Sie war am Boden zerstört“, so Lenz.

Kultusgemeinde begrüßt Appell

Ob Bürger ukrainischer, russischer Herkunft oder Deutsche: „Als Gesellschaft sitzen wir alle in einem Boot“, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Essen, Schalwa Chemsuraschwili. Er begrüße jeden Appell von öffentlicher Seite, der daran erinnert, so Chemsuraschwili. Ganz gleich ob von Stadt oder Land. „Je höher, desto besser.“Die Jüdische Kultusgemeinde in Essen zählt rund 900 Mitglieder, die überwiegende Mehrheit stammt aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Derzeit bereite sich die Gemeinde auf die Ankunft von Flüchtlingen aus der Ukraine. Viele Gemeindemitglieder hätten sich als freiwillige Helfer gemeldet, ganz gleich, ob sie aus der Ukraine oder aus Russland stammten.

Der Oberbürgermeister habe sich darüber sehr betroffen gezeigt, so Stadtsprecherin. Kufen habe das Thema auch deshalb am Donnerstagabend in einer kurzen Ansprache vor dem Essener Münster anlässlich der Friedensbeleuchtung angesprochen und davor gewarnt, „alle über einen Kamm zu scheren“.

Zuvor hatte sich der OB bereits ausdrücklich zur Städtepartnerschaft mit Nischni Nowgorod bekannt. Diese gelte es aufrechtzuerhalten, um die russische Zivilgesellschaft zu unterstützen, so der OB. Das sei auch ein Zeichen an die hier lebende russische „Community“, so Silke Lenz. Man müsse und werde differenzieren zwischen der russischen Regierung und den russischen Menschen.