Essen-Heisingen. Einst waren die Steigerhäuser das Zuhause für Bergleute in Essen-Heisingen, nun folgt der Abriss. Eine Bewohnerin berichtet von ihrer Kindheit.
Einst waren sie ihr Zuhause, bald sind sie Geschichte: Lore Michel hat als junges Mädchen in den Steigerhäusern am Baldeneysee gelebt, die abgerissen werden sollen. Die 83-Jährige erzählt vom Badeofen samt Kupferkessel darin, vom Garten mit Sommerlaube, manch waghalsigem Ausflug und den Angriffen im Krieg. Sie steht an dem Ort ihrer Kindheit. Die Gebäude darauf werden verschwinden, ihre Erinnerung wird das nicht.
Die Grundstücke um die Häuser sind gerodet und für den Abriss vorbereitet, davor blickt Lore Michel nach oben. Dort, wo das Schlafzimmer ihrer Eltern gewesen ist und das Zimmer, das sie sich mit ihren beiden Schwestern teilte. Die älteste von ihnen schlief im Bett, das der Vater nach dem Tod seiner Mutter bekommen hatte. Lore Michel bekam eines von der Tante. Neben dem Haus wuchs das Gemüse, im Stall hielten sie Schweine, Kaninchen, Gänse und Hühner. Die Mutter bewirtschaftete den Garten, während der Vater auf der Zeche arbeitete.
Sein Beruf war es, der die Familie 1937 erstmals an die Freiherr-vom-Stein-Straße führte: Aus der Innenstadt zogen sie ins Steigerhaus mit der Nummer 647. Lore Michel sind aus dieser Zeit lediglich die Bahnen vor ihrem Haus, die Schranken und das Wärterhäuschen im Gedächtnis geblieben, denn sie war erst drei Jahre alt, als sie wieder auszogen. Damals verließen sie Heisingen, denn ihr Vater wurde Fahrsteiger auf Pörtingsiepen und die Maasstraße in Fischlaken ihr Wohnort.
Doch die Familie kam zurück auf die Ruhrhalbinsel: 1944 fand ihr Vater als Werkmeister erneut Beschäftigung auf Carl Funke und sie ein neues Zuhause in der anderen Hälfte des Steigerhauses. Es war die Hausnummer 649. Ein Ehepaar, dessen Wohnung von Bomben zerstört worden war, wohnte in dem Zimmer mit dem Fenster im Giebel. „Die waren schon vor uns da.“ Mit ihnen teilten sie das Bad, denn es gab nur das eine. Nebenan in dem Einzelhaus habe ein Kutscher gewohnt, ein Grubenpferd habe es nicht gegeben, aber eines, das vor die Kutsche gespannt worden sei.
Lore Michel war damals fünf und das, was sie am Baldeneysee erlebte, nennt sie trotz der Kriegsjahre eine unbeschwerte Kindheit, „denn wir waren dort am See in Freiheit“, sagt sie und meint die Natur vor der Haustür, den Wald hinter dem Haus. Eine kleine Tür im Zaun führt den Berg hoch, noch heute ist das Plateau zu erkennen, auf dem ehemals die Sommerlaube stand. „Dorthin kletterte die kleine Lore mit ihrer jüngeren Schwester zu der Stelle, wo das Heidekraut blühte. „Wir saßen oft in der Sonne.“ Schaut sie heute den steilen Hang hoch, „war das wohl ganz schön gefährlich.“
Gefahr allerdings scheute Lore Michel ohnehin nicht, sie konnte gar nicht hoch genug in die Bäume klettern und als sie von einer Weide in den See fiel, zog sie sich an den Ästen wieder heraus. „Ich konnte ja gar nicht schwimmen“, sagt sie von dem Erlebnis, von dem sie den Eltern niemals ein Wort erzählte. „Um Himmels Willen“, entfährt es der 83-Jährigen allein bei dem Gedanken schmunzelnd. Damals trocknete sie ihre Kleider bei der Frau im Schrankwärterhäuschen („die Männer waren im Krieg, mit ihr konnten wir Kinder gut“) am Kanonenofen, bevor sie wieder nach Hause gehen konnte.
Abrisstermin für das erste Steigerhaus
Das Gebäude mit der Hausnummer 657 (Baujahr 1913) steht laut Stadt bereits seit 2016 leer, Grund sind der marode Zustand und die Einsturzgefahr. Das Doppelhaus (Hausnummern 647und 649, Baujahr 1921) bot zwei Familien Platz. Seit dem Frühjahr 2018 war noch eine Haushälfte bewohnt, im vergangenen Sommer zogen die letzten Bewohner der Freiherr-vom-Stein-Straße 647 aus.
Die Stadt ist Eigentümerin der Häuser, die sie 1988 von der Ruhrkohle AG gekauft hat. Schon im Kaufvertrag war festgeschrieben, dass die Häuser nach dem Auszug abgerissen, die Grundstücke zu Grünflächen werden.
Wegen des Zustandes des Hauses an der Freiherr-vom-Stein-Straße 657 ist laut Stadt der Abriss bereits auf Anfang 2023 festgelegt, die Rodungsarbeiten dafür sind abgeschlossen. Noch in diesem Jahr folgen laut Stadt weitere Vorarbeiten für den Abbruch: Erstellung des Schadstoffkatasters, die Ausschreibung und Vergabe der Arbeiten. Für das Doppelhaus nennt die Stadt noch keinen Abrisstermin.
Ihre Eltern erfuhren zudem nie etwas vom Ausflug ihrer Tochter aufs Dach, als ihr das Staubtuch aus dem Fenster gefallen war. Da sie es mit dem Besen nicht erreichen konnte, stieg sie kurzerhand aus dem Fenster. „Es ging gut“, sagt sie heute mit Blick auf den gepflasterten Boden in der Tiefe. Noch eine Etage tiefer unten im Keller kauerte die Familie mit den weiteren Bewohnern, als Bomben fielen („die Einquartierten legten uns Kindern Lumpen auf den Kopf“), später brachten sie sich auch in den nah gelegenen Bunkern hinter dem Holzplatz in Sicherheit.
Viel weiter führten die Wege zum Einkaufen, auf denen die Mädchen die Mutter begleiteten, zum Metzger, an die Bahnhofstraße vorbei an der Carl-Funke-Kolonie und zu Bäcker Felderhoff. Ein weiterer Weg führte ins Feld, mittendrin waren Knappschaftsarzt und Diakonissin angesiedelt, es gab einen Kindergarten und ein Planschbecken. „Ich durfte allerdings nicht baden, da ich mein Brot nicht aufgegessen hatte“, erzählt Lore Michel. In der Schule wiederum gab es den Badetag für alle Kinder, immer freitags.
„Deswegen konnte ich einst keinen Elterntag an einem Freitag machen“, fügt die ehemalige Grundschullehrerin Ursula Knappke hinzu. Sie ist mit ihrer Freundin und Kollegin nach Heisingen gekommen. Beide waren viele Jahre Lehrerinnen in Fischlaken. Lore Michel selbst hat die Marienschule besucht, später an der pädagogischen Hochschule studiert und die erste Zeit an der Carl-Funke-Schule unterrichtet.
Zuvor aber erlebte sie mit ihrer Familie das Ende des Krieges in ihrem Steigerhaus am Baldeneysee. „Am 8. April kamen die Amerikaner, und wir waren die ersten Häuser auf ihrer Strecke“, erzählt sie. Die Männer durchsuchten die Zimmer nach Waffen, um sich dann am großen Tisch niederzulassen. Darauf stand der Salzpott, und die Mutter am Herd, um immer wieder Nachschub zu bringen. „Sie hatten lange keine Pellkartoffeln mehr gegessen“, wie sie von einem Deutsch sprechenden Offizier erfuhren. Andere kamen später, „die Amerikaner bewachten das große Zechentor“, sagt Lore Michel.
Nach dem Krieg verlor ihr Vater seine Arbeit („er ist in der Partei gewesen“), ihre Familie zog zunächst nach Werden. Und da sie beim Umzug Stroh und Heu nicht hatten mitnehmen können, führt eine weitere Erinnerung zurück zum Baldeneysee. Denn über diesen kehrten die Töchter mit ihrem Vater und einem Schlitten zurück zu den Steigerhäusern, um Einstreu und Futter für die Tiere zu holen. „Der Winter war so kalt, dass der See zugefroren war.“ Bis zur Höhe Staumauer sind sie gekommen, dann lag Wasser vor ihnen und sie mussten sich nahe der Bauernstuben in Sicherheit bringen. „Ich habe nie wieder so gefroren“, erzählt Lore Michel vom Jahr 1946.
Viele Jahre hat sie dann in Werden und im Hespertal gelebt, ist nach ihrer Pensionierung 2000 aus Essen weggezogen und immer wieder zurückgekommen – auch zu den Steigerhäusern. „Nein, ich bin nicht traurig, wenn diese jetzt abgerissen werden“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Wer soll denn bei dem maroden Zustand dort wohnen?“ Zudem seien die Häuser für Normalbürger doch zu abgelegen, glaubt sie und lächelt beim Gedanken an die Einkäufe mit ihrer Mutter: „Es ist doch viel zu weit bis zum nächsten Konsum.“
Nach Essen würde Lore Michel aber sehr gern wieder ziehen, eine Wohnung in Fischlaken wäre schön. Ein Andenken an die Zeit in Heisingen würde sie auch mitbringen: Die 83-Jährige schläft bis heute in dem Bett, das ihr Vater einst geerbt hat und in dem ihre Schwester schlief – im Steigerhaus.