Essen. Noch ist unklar, wer durch einen Böller den Spielabbruch bei RWE provozierte. Der Blick richtet sich auf Block W1. Dort stehen die harten Jungs.

Die überwältigende Mehrheit der Zuschauer im Stadion an der Hafenstraße reagierte fassungslos, ja geschockt auf diesen gewaltigen Knall, der einem packenden Fußballspiel zwischen den Mannschaften von Rot-Weiss Essen und Preußen Münster am Sonntagnachmittag, ein abruptes Ende setzte. Nur Sekunden nach dem verheerenden Böllerwurf, durch den zwei Auswechselspieler des Gästeteams verletzt wurden, fanden viele die Sprache wieder: „Wir sind Essener und ihr nicht“, schallte es in Richtung Block W1 der Westtribüne, aus dem der Böller augenscheinlich geflogen kam.

Der Spielabbruch beim Spitzenspiel der Regionalliga West hallt nach. Rot-Weiss Essen hat es wieder einmal in die überregionalen Schlagzeilen geschafft. Aber auf eine Art und Weise, die sich niemand im Verein und im Umfeld gewünscht hat, mit Ausnahme vielleicht von ein paar unverbesserlichen Chaoten.

RWE-Chef Marcus Uhlig spricht in einer ersten Reaktion von der Tat eines Wahnsinnigen

In deren Reihen verortete RWE-Vorstand Marcus Uhlig den unbekannten Werfer, als er in einer ersten Reaktion von „der Tat eines Verrückten, eines Vollidioten, eines Wahnsinnigen“ sprach. Von der Tat „eines Einzeltäters“.

War es ein Einzeltäter? Ein Verdächtiger, der von der Polizei vorläufig festgenommen worden war, ist wieder auf freiem Fuß. Er sei vollständig rehabilitiert, habe mit dem Böllerwurf nichts zu tun. Am Montag ging die Suche weiter. Die Polizei bittet mögliche Zeugen, sich zu melden. Aufzeichnungen der Videokameras dürften den Ermittlern kaum weiterhelfen. Die Bilder zeigten die Totale und könnten nicht personenscharf aufgezeichnet werden, heißt es. Womit sich die Frage stellt, welchen Sinn die Videoüberwachung dann überhaupt macht.

Marcus Uhlig erklärte im Gespräch mit der Redaktion, er wolle sich an Spekulationen über den oder die möglichen Täter nicht beteiligen. Dabei hatte Uhlig Spekulationen selbst befeuert, als er sich am Abend zuvor nach dem Spielabbruch mit einigen Stunden Abstand noch einmal zu Wort meldete: Es dürfe nicht sein, „dass ein einziger oder ganz wenige Vollidioten, alles kaputtmachen und den ganzen Verein in den Dreck ziehen. Das werden wir uns (nicht mehr) bieten lassen“.

Hat sich RWE viel zu lange zu viel bieten lassen? Und wenn ja, von wem?

Niemand im Stadion dürfte sich wundern, sagt die Fan-Förderabteilung von RWE

Der Vorstand der „Fan-Förderabteilung“ (FFA) von Rot-Weiss Essen wird deutlicher: „Augenscheinlich gibt es im Block W1 – und niemand im Stadion dürfte sich darüber gewundert haben – immer noch eine Gruppe von Leuten, die sich über alles hinwegsetzen“, heißt es in einer Stellungnahme der FFA von Sonntagabend.

Auswechselspieler von Preußen Münster unmittelbar nach der Detonation eines Böllers vor der Westtribüne im Stadion an der Hafenstraße.
Auswechselspieler von Preußen Münster unmittelbar nach der Detonation eines Böllers vor der Westtribüne im Stadion an der Hafenstraße. © FUNKE Foto Services | Thorsten Tillmann

Alle, die sich doch wundern sollten, müssen wissen: Die Fanszene von Rot-Weiss Essen ist alles andere als einheitlich. Bei Heimspielen stehen in Block W1 Gruppen wie „Brigade Essen“, „Commando Essen“ und die „Steeler Jungs“, letztere inzwischen über den Fußball hinaus bekannt durch regelmäßige „Spaziergänge“ in Steele, die nichts anderes sind als politische (Macht-)Demonstrationen. Sie alle werden mehr oder weniger der rechten Hooligan-Szene zugeordnet, mit einzelnen Verbindungen ins kriminelle Rockermilieu.

Es gibt noch andere Fangruppen: Die Ultraszene von Rot-Weiss Essen distanziert sich in einer Stellungnahme auf Instagram ausdrücklich von Böllerwürfen und verurteilte „die hirnrissige Aktion aus dem Nachbarblock“. Auch die Ultraszene ist heterogen, das verbotene Abbrennen von Pyrotechnik gehört zu ihrem Repertoire. Es bestehe aber Konsens, dass Böllerwürfe nicht dazu zählen, um niemanden zu gefährden, heißt es.

Die Ultraszene von Rot-Weiss Essen distanziert sich von dem Böllerwurf

Die Ultraszene versammelt sich bei Heimspielen in Block W2, hält also räumlich Abstand zu rechten Fangruppierungen, auch weil diese, obwohl zahlenmäßig kleiner, auf der Westtribüne faktisch über das Gewaltmonopol verfügen. Vor diesem Hintergrund soll sich die Gruppierung „Ultras Essen“ 2015 aufgelöst haben, nachdem einzelne Personen verbal und körperlich angegangen worden waren.

Im Stadion verhält sich die rechte Szene bislang ansonsten unauffällig. „Keine Politik im Stadion“ lautet das Motto, dem sich alle anderen unterwerfen. Wobei rechte Gruppierungen die Deutungshoheit für sich beanspruchen. Als das „Awo-Fanprojekt“ 2013 eine Dokumentation über Rockbands aus dem politisch rechten Milieu zeigen wollte, sprengten RWE-Fans unter Gewaltandrohung die Filmvorführung. Die Täter sollen damals der rechten Fanszene angehört haben oder ihr zumindest nahestehen.

Von der politischen Linken muss sich Rot-Weiss Essen seit längerem den Vorwurf gefallen lassen, der Vereine unternehme nichts gegen rechte Umtriebe in der eigenen Fanszene. Wegen seiner politischen Gesinnung allein aber wird bei RWE niemand ausgeschlossen. Und solange sich im Stadion niemand etwas zu Schulden kommen lässt, sieht der Verein keinen Grund, gegen einzelne Personen vorzugehen. Eine Rechtsgrundlage gibt es dafür jedenfalls nicht.

Und wieder wird Rot-Weiss Essen von der eigenen Vergangenheit eingeholt

Nach dem Böllerwurf von Sonntag ermittelt die Polizei wegen gefährlicher Körperverletzung. Gut möglich, dass der Knall nicht nur ein juristisches Nachspiel erfährt, sofern der oder die Täter ausfindig gemacht werden.

Er habe „die Faxen dick“, erklärte Marcus Uhlig. Der Verein bemüht sich seit Jahren, das negative Image aus längst vergangenen Jahrzehnten abzuschütteln, und wird doch immer wieder von der eigenen Vergangenheit eingeholt. Wie beim Hinspiel in Münster, als RWE-Fans im Stadion eine Absperrung durchbrachen und es auch außerhalb des Stadions zu Jagdszenen kam. Hooligans aus Essen, aber auch aus Dortmund und anderen Städten sollen beteiligt gewesen sein. Den Verein kostete das eine empfindliche Strafe. So auch jetzt: Nach dem Spielabbruch von Sonntag droht mitten im Aufstiegskampf sogar ein Punktabzug.

Fan-Förderabteilung

Rot-Weiss Essen hat zur Zeit 7046 Mitglieder. Jedes Vereinsmitglied kann auf Wunsch auch Mitglied der Fan-Förderabteilung (FFA) von RWE werden. Die FFA setzt sich für Belange der Fans ein und vertritt diese in den Vereinsgremien. Die FFA wählt aus ihren Reihen einen Vorstand und entsendet einen Vertreter in den Aufsichtsrat.

Das Spiel gegen Preußen Münster verfolgten 10.000 Zuschauer, darunter 800 Gästefans. Das Stadion war damit ausverkauft. Mehr Fans waren aufgrund der aktuellen Coronabestimmungen nicht zugelassen.

War der Böllerwurf der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt? Handelte es sich um die unüberlegte Tat eines Einzelnen, der Verletzungen von Menschen und einen Spielabbruch vielleicht nicht provozieren wollte, beides aber mindestens in Kauf nahm? Oder war es eine bewusste Machtdemonstration einiger weniger?

Noch bleibt Spekulation, wer den Böller geworfen hat. Der Verein werde nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sagt Marcus Uhlig. Die Äußerungen des RWE-Vorstandes und der FFA deuten darauf hin, dass sie den oder die Täter dort vermuten, wo sich die rechte Szene bei Heimspielen versammelt, in Block W1. Dorthin zielten am Sonntag auch lautstarke Rufe vieler empörter Zuschauer, als es über die Tribüne schallte: „Nazis raus!“