Essen. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst besuchte dieses Jahr die Weihnachtsfeier für Wohnungslose in Essen. Was sich Obdachlose am meisten wünschen.
In diesem Jahr gab es gleich zwei Überraschungsgäste bei der Weihnachtsfeier für Obdachlose in der Essener Innenstadt: NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) besuchte die Feier und RWE-Stadionsänger Sandy Sandgathe sang mit den Teilnehmenden. Ein bisschen Weihnachtsstimmung für die Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen auf der Straße leben.
Unter Corona-Bedingungen, aber dennoch stimmungsvoll, verlief die traditionelle Weihnachtsfeier für Obdachlose, zu der das Diakoniewerk und der Caritasverband Essen seit 40 Jahren an Heiligabend einladen. Keine Arbeit ohne festen Wohnsitz, keine Wohnung ohne feste Arbeitsstelle – das ist der Teufelskreis, dem fast alle Obdachlosen zu entkommen versuchen.
Obdachlose in Essen berichten von ganz unterschiedlichen Lebenswegen
Liebevoll umarmt Mickey (39) seine Yvonne (36). Das Paar lebt auf der Straße, verbringt die Nächte zumindest im Winter meist bei der Krisenhilfe. Zweisamkeit ist da nicht möglich, Frauen und Männer sind getrennt untergebracht. Die beiden kommen eigentlich aus Bayern, wollen hierbleiben. „Essen ist schon sehr okay“, sagt Yvonne. Mickey stammt aus Kroatien, hat in Essen eine Haftstrafe abgesessen. Jetzt hat er einen festen Job als Umzugshelfer. „Da muss man nur anpacken können“, sagt er.
Unglücklicherweise habe er seinen Pass verloren, erzählt der Kroate. In Corona-Zeiten sei es sehr schwierig, einen Neuen zu erhalten und ohne Pass bekomme man keine Wohnung, haben die beiden erfahren. Zwischenzeitlich lebte das Paar in einer Wohngemeinschaft, aber das klappte nicht mehr, erklärt Yvonne, die früher als Kinderpflegerin gearbeitet hat. Eigentlich würde sie gern kochen und wünsche sich so sehr eine richtige Wohnung, auch für den Hund, der jetzt meist bei Bekannten untergebracht sei. Im Gegensatz zu ihrem Partner hat sie noch Kontakt zur Familie. „Meine Mutter hat zu Weihnachten ein Päckchen geschickt.“
Nicole (25) sieht man nicht an, dass sie auf der Straße lebt. „Mir ist es wichtig, auf mich zu achten, ordentlich auszusehen.“ Sie habe eine schlimme Kindheit gehabt, sei vom Stiefvater vergewaltigt worden und im Heim in Überruhr aufgewachsen. Zur Mutter will sie keinen Kontakt mehr. „Ich habe kein Problem mit Alkohol und Drogen, bin deshalb lieber allein unterwegs, damit ich da erst gar nicht ‘rein gerate“, sagt sie. Sie sei ein starkes Mädchen, wisse sich zu wehren und habe dennoch nachts Angst, wenn sie unterwegs sei. Zum Glück könne sie meist bei einer Freundin schlafen. „Sie ist jetzt nicht da, aber ich kann dorthin und sie hat sogar für mich eingekauft“, sagt Nicole.
Eine Ausbildung zur Friseurin habe sie abgebrochen, lebe jetzt von Hartz IV und vom Betteln. „Wenn du Hartz IV bekommst, winken die Vermieter schon ab, dabei kommt das Geld doch zuverlässig“, sagt sie. Tagsüber ist sie in der Innenstadt oder in Frohnhausen unterwegs. Nicole nimmt die Angebote der Wohnungslosenhilfe gern an, lässt sich die Post dorthin schicken, nutzt Dusche und Kleiderkammer.
Thomas (55) hat bis vor kurzem bessere Zeiten erlebt. Erst seit zwei Wochen ist der Essener, der über 30 Jahre lang bei Sicherheitsdiensten eine feste Arbeit hatte, wohnungslos. 800 Euro Miete pro Monat habe er bezahlt, einen Mercedes gefahren. Dann kam Corona, das Kurzarbeitergeld reichte nicht mehr für die Miete. „Aber ich hatte Ersparnisse, habe es mir auf der Couch bequem gemacht.“ Irgendwann war das Geld aufgebraucht, er musste das Auto verkaufen, konnte die Miete nicht mehr zahlen.
Ein Wohnungsloser hatte 30 Jahre lang eine feste Arbeit
Thomas macht sich selbst für seine jetzige Lage verantwortlich: „Ich war zu stolz, zum Amt zu gehen. Ich hätte den Hintern eher hochbekommen müssen.“ Er habe Familie im Ausland, wolle die aber nicht belasten. Sein Sachbearbeiter habe ihm ermöglicht, die Nächte im Hotel zu verbringen, ab 18 Uhr könne er abends dort rein. „Er hat gesagt, du gehörst nicht auf die Straße.“
Dort lebt Denise (34) seit 20 Jahren, sie nehme Heroin. „Sonst kannst du dieses Leben nicht ertragen.“ Sie leide unter dem Borderline-Syndrom, ritze sich die Haut. „Aber im Moment habe ich es im Griff.“ Ihre inzwischen verstorbene Mutter habe sie weggegeben, als sie sechs Jahre alt war. „Meine Schwester durfte bleiben, deshalb bin ich noch heute wütend auf sie, obwohl sie ja nichts dazu kann.“ Das Jugendamt habe sie damals nach Italien auf einen Bauernhof geschickt. „Da bin ich aber abgehauen.“ Ihr größter Wunsch wäre eine kleine Wohnung, damit es auch ihr Hund besser habe, sagt sie und zeigt Handyfotos von ihrem Vierbeiner.
Sie alle sitzen am Heiligabend an weihnachtlich geschmückten Biertischen bei Kaffee und Eintopf unter Pavillons zusammen, wärmen sich in der Nähe der Heizpilze, nehmen sich eine Weihnachtstüte mit Körperpflegeprodukten, Schals, Handschuhen und Kaffee mit. „In den Vorjahren haben wir mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Studierendenzentrum ,Die Brücke’ gefeiert, jetzt muss die Feier hier im Innenhof der Ambulanten Gefährdeten- und Wohnungslosenhilfe an der Lindenallee stattfinden. Wir haben vorher 100 Eintrittskarten verteilt“, erklärt Petra Fuhrmann, Bereichsleiterin beim Diakoniewerk.
Durch die begrenzte Teilnehmerzahl konnten in diesem Jahr nur Menschen kommen, die auf der Straße oder in Notunterkünften leben, nicht aber solche, die inzwischen eine feste Bleibe gefunden haben und gern aus alter Verbundenheit dabei sein wollten, berichtet Petra Fuhrmann.
Ministerpräsident Hendrick Wüst besuchte die Weihnachtsfeier
Pfarrer Andreas Müller vom Diakoniewerk und der Franziskaner-Pater Hermann-Josef hielten eine kurze Andacht, Oberbürgermeister Thomas Kufen und Sozialdezernent Peter Renzel brachten bei ihrem Besuch der Feier dieses Mal den NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst mit, der sich zuvor im Gesundheitsamt über die Arbeit zu Corona-Zeiten informiert und den Mitarbeitenden für ihren Einsatz an den Feiertagen gedankt hatte. Wüst betonte, dass Wohnungslosigkeit jeden treffen könne. Die Landesregierung arbeite daran, den Menschen besser helfen zu können, sei aber noch lange nicht am Ziel.
„Um 16 Uhr ist dann Schluss. Menschen, die allein auf der Straße unterwegs sind, können einfach nicht viele Stunden in geselliger Runde verbringen, das wird ihnen zu viel. Und außerdem ist es dann noch früh genug, sich in einer Unterkunft einen Platz für die Nacht zu sichern“, weiß Petra Fuhrmann aus Erfahrung. In der Regel seien 75 Prozent der Teilnehmenden Männer, wohl auch, weil obdachlose Frauen oft stark traumatisiert seien, sexualisierte Gewalt erlebt hätten und solche Treffen nicht gut ertragen könnten.
Für die Mitarbeitenden der Organisationen sei der Termin der Weihnachtsfeier gesetzt, auch wenn es dann statt Gänsebraten doch eher Kartoffelsalat zu Hause gebe. Auch viele Ehrenamtliche helfen jedes Jahr mit, betont Petra Fuhrmann. „Das gehört für uns dazu. Es ist einfach wichtig, in Kontakt mit den Wohnungslosen zu kommen. Die Feier bedeutet viel Arbeit, aber ist auch jedes Mal eine unglaublich schöne und berührende Erfahrung.“