Essen. Wer beim Bummel durch die „Einkaufsstadt“ Essen genauer hinschaut, entdeckt zahlreiche Beispiele hochkarätiger Architektur. Ein Spaziergang.

Wer in der Essener Innenstadt nicht nur das Konsumerlebnis sucht und beim Flanieren genauer hinschaut, wird an vielen Ecken belohnt: mit Beispielen vorzüglicher Architektur. Ein Merkmal, das Essen abhebt von anderen Städten im Revier. „In unserer Innenstadt findet sich viel Hochkarätiges und Spannendes“, sagt der Essener Architekturexperte Robert Welzel über das Ensemble an Monumentalbauten zwischen Hauptbahnhof und Viehofer Platz.

Hochkarätige Architektur in der Innenstadt: Experte Robert Welzel beginnt seine Tour an der Lichtburg. Sie ist der „Prototyp eines modernen Mehrzweckbaus“ aus Geschäften, Gastronomie, Büros und Lichtspiel.
Hochkarätige Architektur in der Innenstadt: Experte Robert Welzel beginnt seine Tour an der Lichtburg. Sie ist der „Prototyp eines modernen Mehrzweckbaus“ aus Geschäften, Gastronomie, Büros und Lichtspiel. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

An der Lichtburg, 1928 erbaut nach den Plänen von Heydkamp & Bucerius (Fassade Ernst Bode), beginnt unser architekturhistorischer Streifzug durch die City. Weil das Gebäude neben Deutschlands größtem Filmpalast auch noch Geschäfte, Gastronomie und Büros beherbergt, gilt es als „Prototyp des modernen Mehrzweckbaus“. Fasziniert ist Welzel davon, wie Licht hier als Gestaltungsmittel eingesetzt wird. Das Bandfenster zum Burgplatz hin erzeugt nachts einen Lichtstreifen, der auf den Eingang hinweist. Und die Leuchtreklame vorn mit dem Schriftzug „Lichtburg“ wirkt wie ein Filmstreifen. Die waagerechten Fensterbänder, die Fassade aus glatt geschliffenem Muschelkalk, das flache Dach – das alles ist typisch Zwanziger Jahre.

In der Weimarer Republik erlebt das „Neue Bauen“ in Essen seine Blüte

Neues Bauen in der Essener Innenstadt: Der Burgplatz um 1930 mit Lichtburg, Baedekerhaus und dem Geschäftshaus Blum (heute Peek & Cloppenburg)
Neues Bauen in der Essener Innenstadt: Der Burgplatz um 1930 mit Lichtburg, Baedekerhaus und dem Geschäftshaus Blum (heute Peek & Cloppenburg) © Ruhr Museum

Bevor es weitergeht, lohnt sich eine Kurzbetrachtung der jüngeren Stadtgeschichte. Ehe die Industrialisierung wie ein Tornado über die Stadt hinwegfegt, war Essen Ackerbürgerstädtchen und beschauliche Residenz. Doch historische Bausubstanz aus Fachwerk findet sich nicht mehr. Sie wurde in den Bombennächten des Weltkriegs in Schutt und Asche gelegt.

Erst als sich die Boomtown selbstbewusst als Metropole des „Ruhrkohlenbezirks“ begreift und dann auch als „Einkaufsstadt“, entstehen in der Stadtmitte beeindruckende Monumentalbauten – besonders jene im Stil des Neuen Bauens nach dem Ersten Weltkrieg.

Es ist der Beigeordnete und Baumeister Ernst Bode, der dem Burgplatz in den 1920er Jahren ein neues Gesicht gibt. Das vom Architekten Ernst Knoblauch entworfene Geschäftshaus Blum (1924/25; heute Peek & Cloppenburg) und daneben das Baedekerhaus (1926-28) mit den Fassaden-Skulpturen repräsentieren ebenfalls ein neues, sachliches Formgefühl: Letzteres erinnert an ein italienisches Palazzo. „Beide Gebäude nehmen Rücksicht auf die dominierende Münsterkirche gegenüber, indem sie zum Beispiel auf Türme verzichten“, sagt Welzel. Pläne aus der späteren Kaiserzeit, am Burgplatz ein modernes Rathaus zu errichten, sind nie verwirklicht worden.

In Essen setzen exzellente Architekten wie Georg Metzendorf, Edmund Körner und Ernst Knoblauch Maßstäbe beim Bauen

Ein Gebäude mit Ecken und Kanten: Die Börse von Edmund Körner zählt zu den wichtigsten Bauwerken des Backstein-Expressionismus im Ruhrgebiet. Heute befindet sich hier das Haus der Technik“. Der Arkadengang hat jetzt runde Bögen.
Ein Gebäude mit Ecken und Kanten: Die Börse von Edmund Körner zählt zu den wichtigsten Bauwerken des Backstein-Expressionismus im Ruhrgebiet. Heute befindet sich hier das Haus der Technik“. Der Arkadengang hat jetzt runde Bögen. © Funke Foto Service | Sammlung Robert Welzel / Ulrich von Born

Bauhistorisch bemerkenswert ist das Jahr 1912, in dem ein halbes Dutzend großstädtischer Monumentalbauten entstehen: der imposante Handelshof, das Bankhaus Hirschland (Lindenallee), das Overbeck & Weller-Haus am Kopstadtplatz (Architekt Ernst Knoblauch; heute „Konsumreform“) und das legendäre Warenhaus Althoff, das dem Einkaufszentrum Limbecker Platz weichen musste.

In derselben Zeit (1911-13) entsteht die neue Synagoge nach den Plänen von Edmund Körner, der zum „Stadtbaumeister“ aufsteigt. „Ein Gebäude mit großer Dekorationslust im Sinne des Jugendstils und zugleich ein gelungenes Beispiel für eine städtebaulich anspruchsvolle Reformarchitektur“, sagt Welzel. Die Präsenz des Gebäudes im Stadtraum löse „Emotionen beim Betrachter“ aus.

Von Körner, den er zu den genialsten Architekten jener Zeit zählt, stammt auch die Börse (heute Haus der Technik), die 1922-27 auf schwierigem Terrain gebaut wurde: spitz zulaufend und abschüssig. „Die Börse zeigt kubistische Einflüsse, zählt aber außerdem zu den wichtigsten Bauwerken des Backstein-Expressionismus im Ruhrgebiet“, schwärmt Welzel. Nach den monströsen Schlachten des Weltkriegs rücken Architekten wie Körner die Harmonie in den Hintergrund. Die zum Teil extrem gestaffelte Börse mit dem langen Arkadengang zeige Ecken und Kanten und trotz vieler funktionaler Aspekte ein hohes Maß an emotionaler Ausstrahlung.

Visitenkarte der Innenstadt: Börse, Handelshof, Hauptpost, DeFaKa und Eickhaus

Das von Spitzen-Architekten geschaffene Ensemble aus Börse, Handelshof, Hauptpost (bis 1931) und Eickhaus (1914; Georg Metzendorf) ergibt für Welzel ein durchgehendes Band und zugleich die Visitenkarte am Eingang zur Einkaufsstadt. Es wird bald vervollständigt durch den neuen „Königshof“ (früher Galeria Kaufhof), der anknüpft an das alte Defaka-Warenhaus (1936/37) von Hanns Koerfer.

Lange bevor sich Essen mit der Skyline schmückt, entsteht mit dem Deutschlandhaus (1928/29) des Kölner Architekten Jacob Koerfer das erste Essener Hochhaus (zehn Stockwerke, 38 Meter hoch): ein Bau, der einen ganzen Häuserblock füllt und so manchen Betrachter an einen Ozeanriesen erinnert.

Das Gebäude, in weniger als einem Jahr errichtet, ist architektonischer Ausdruck der Beschleunigung. Die Menschen können sich im Innern sowohl vertikal im Paternoster als auch horizontal auf Rundwegen optimal bewegen. Die Stahlskelettbauweise erlaubt die Öffnung der Fassaden in Fensterbändern, die in der Dunkelheit faszinierende Lichtbänder ergeben. Die über Eck geführten Fenster im Turm versprühen „Transparenz und Leichtigkeit“. Überhaupt symbolisiert das Deutschlandhaus für Welzel „die demokratischen Gesellschaftsideale der Weimarer Republik“.

Architekturexperte Robert Welzel: „Das Deutschlandhaus verkörpert die demokratischen Gesellschaftsideale der Weimarer Republik“

Farbenfroh und mit verspielter Fassade: So präsentiert sich das so genannte Keramikhaus am Flachsmarkt im Jahr 1912. Keine 25 Jahre später ändert sich das Bild kolossal . . . . .
Farbenfroh und mit verspielter Fassade: So präsentiert sich das so genannte Keramikhaus am Flachsmarkt im Jahr 1912. Keine 25 Jahre später ändert sich das Bild kolossal . . . . . © Sammlung Robert Welzel
 . . . . denn jetzt setzt hier die „Propaganda-Architektur“ der NS-Diktatur durch. Das Gebäude wird 1935-37 Sitz der Deutschen Arbeitsfront.
 . . . . denn jetzt setzt hier die „Propaganda-Architektur“ der NS-Diktatur durch. Das Gebäude wird 1935-37 Sitz der Deutschen Arbeitsfront. © Sammlung Robert Welzel

Weiter geht’s zum Kennedyplatz, wo der Budenzauber den Blick auf das Amerikahaus (1951/52; jetzt Europahaus) einschränkt. Das erste Amerikahaus auf dem europäischen Kontinent ist damals aufs Münster ausgerichtet, den Gilden- bzw. Kennedyplatz gab’s noch nicht. Zuerst ist es ein Kulturzentrum auch im Dienste der Entnazifizierung, zwischenzeitlich „Rathäuschen“ und heute Stratmanns Theater. Geschwungenes Vordach, Rasterfassade und Rundstützen: Der Entwurf verbindet monumentale Motive mit der neuen Eleganz der Nierentisch-Nachkriegszeit.

Das Keramikhaus ist 2021 eines der letzten Gebäude in Essen, wo die NS-Spuren deutlich sichtbar werden.
Das Keramikhaus ist 2021 eines der letzten Gebäude in Essen, wo die NS-Spuren deutlich sichtbar werden. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Vorletzte Station unserer Innenstadt-Tour ist das Keramikhaus (1912) am Flachsmarkt: Als Werbemaßnahme der Keramikindustrie schmückt das Gebäude eine farbenfrohe Fassade. Aber zwischen 1935 und 1937 wird es umgebaut zum Dienstgebäude der Deutschen Arbeitsfront. „Es ist heute eine der wenigen NS-Staatsarchitekturen in Essen“, sagt Welzel. Die Putzfassade, der Basaltsockel, die Vereinheitlichung der Fenster und des Baukörpers symbolisieren die gleichgeschaltete NS-Volksgemeinschaft. Von der Verspieltheit des ursprünglichen Entwurfs blieb nichts mehr übrig. Welzel spricht von „Propaganda-Architektur“.

Zäsur 1933: In der Nazi-Diktatur werden Spitzenarchitekten mit Arbeitsverboten belegt

Das Allbauhaus am Pferdemarkt früher und heute: Der Entwurf aus dem Jahr 1927/28 stammt von Ernst Knoblauch. Die Skulpturen des Künstlers Will Lammert wurden von den Nazis entfernt.
Das Allbauhaus am Pferdemarkt früher und heute: Der Entwurf aus dem Jahr 1927/28 stammt von Ernst Knoblauch. Die Skulpturen des Künstlers Will Lammert wurden von den Nazis entfernt. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Bezeichnend für die finstere Zeit unterm Hakenkreuz: Top-Architekten wie Edmund Körner oder Georg Metzendorf werden mit Arbeitsverboten belegt und des „Kulturbolschewismus“ bezichtigt.

„Esssener Streifzüge“: Reiseführer für die Stadt

Architekturexperte Robert Welzel, Jahrgang 1969, ist Autor der beliebten Buchreihe „Essener Streifzüge“. Soeben ist im Aschendorff-Verlag Münster sein vierter Band erschienen mit dem thematischen Schwerpunkt: „Mit der VHS auf den Spuren der Moderne“. Welzel ist Vorstandsmitglied des Historischen Vereins für Stadt und Stift Essen.

Der reich bebilderte Band umfasst 240 Seiten, kostet 14,95 Euro und ist im Buchhandel erhältlich.

Den Schlusspunkt der Tour setzt das Allbauhaus am Pferdemarkt (1927/28; Architekt Ernst Knoblauch), das durch Materialschönheit, Fensterraster und runde Ecken besticht. Die Skulpturen des Künstlers Will Lammert haben die Nazis zerstört, sie galten als „entartet“. Im Erdgeschoss gab es einst das Warenhaus EPA (Einheitspreis AG), eine Billigmarke von Karstadt.

Robert Welzel zieht Bilanz: „Nach 1933 und nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Essen daran kaum mehr anknüpfen“, resümiert Robert Welzel. Aber allein das Wissen um diese vielen architektonischen Schätze macht die Essener Innenstadt trotz aller aktuellen Sorgen um einiges attraktiver.