Essen. Der vierte Band der „Essener Streifzüge“ des Stadthistorikers Robert Welzel liegt vor. Was einen im Reiseführer für die eigene Stadt erwartet.
Drei Bände der beliebten Buchreihe „Essener Streifzüge“ hat Autor Robert Welzel in den letzten acht Jahren bereits vorgelegt, jetzt erscheint sein vierter Band. Der Untertitel lautet: „Mit der VHS auf den Spuren der Moderne“. Mit 530 zum Teil unbekannten Fotos sind die neuen Streifzüge reich bebildert. Wie immer legt Robert Welzel dem geneigten Leser unterhaltsame und informative Rundgänge durchs Stadtgebiet ans Herz. Dieses Mal enthält der Reiseführer zwölf Streifzüge voller Architektur- und Stadtgeschichte.
Die Geschichte der frühen VHS (1919-1933) und ihre Ausstrahlung auf Stadtgesellschaft und Stadtteile zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Nach dem Zerfall des auf Zucht und Zackigkeit bedachten Kaiserreichs atmet die junge VHS den Geist der Freiheit. Sie gibt praktische Anleitungen für den Bau von Radios und thematisiert den Pazifismus und die Anthroposophie. Sie gibt sich tolerant, weltoffen und klar sozialistisch. 45 Prozent der Kursbesucher sind Frauen, hoch ist auch die Zahl der Dozentinnen. Neu ist auch: Das VHS-Programm wird den Menschen nicht von oben vorgegeben, sondern Interessengruppen sind es, die die Inhalte erarbeiten. „Die VHS beschäftigt sich sehr stark mit weltanschaulichen Fragestellungen“, sagt Welzel.
Namhafte Architekten leben in Essen und prägen das Gesicht der Stadt
Als ausgewiesener Kenner der Essener Architekturgeschichte spannt der Autor geschickt den Bogen zu den Werken, die namhafte Baumeister in dieser kreativen Zeit des Aufbruchs geschaffen haben. Das „Neue Bauen“ und die „Neue Sachlichkeit“ – Welzel vermeidet den Begriff Bauhaus – markieren eine Abkehr von Pomp und Schnörkel der Kaiserzeit. Nun zählen Funktionalität, die Bedürfnisse des Menschen und der Verzicht auf Überflüssiges. Und, ja, Bauwerke dürfen sogar expressionistisch sein.
Prägende Architekten wie Ernst Bode, Ernst Knoblauch, Alfred Fischer, Georg Metzendorf, Edmund Körner und Josef Rings sind in dieser Stadt ansässig. Essen gilt als dynamische Stadt, die sich über das Revier hinaus Geltung verschaffen will als Metropole. Dazu passt: Die Große Ruhrländische Gartenbauausstellung (Gruga) bereichert die Stadt ebenso wie die zum Baldeneysee aufgestaute Ruhr. Welzel: „Vieles, was damals gebaut wird, würde man heute immer noch als modern einstufen.“
Stadt, Historischer Verein und Geno-Bank
Der vierte Band der Essener Streifzüge umfasst 240 Seiten, kostet 14,95 Euro und ist ab sofort im Buchhandel erhältlich.
Die Zusammenarbeit zwischen Stadt Essen (Volkshochschule), Historischem Verein und Geno-Bank hat sich auch dieses Mal bewährt. Nur der Verlag hat gewechselt: Erstmals erscheinen die Streifzüge im Aschendorff-Verlag Münster.
Weltkrieg und Abrissbirne haben viele architektonische Schätze wie etwa das Frauenbundhaus in Altendorf von der Bildfläche gerissen. Welzel setzt das Untergegangene in seinen Streifzügen mit zum Teil unveröffentlichten Bildern wieder auf die Karte. Die im Fabrikbaustil errichtete Kirche St. Fronleichnam in Bochold existiert immer noch.
Nazi-Diktatur zerstört Essens Aufbruch in die Moderne
Ausführlich erinnert der Autor an prägende Persönlichkeiten des Kosmos Volkshochschule, die weit über Essen hinaus „Großes und Bleibendes“ geschaffen haben. Von Franz-Joseph Koch stammt die Fingerlesemethode, die sich für Kinder, Legastheniker und erwachsene Analphabeten als segensreich erweist. Leo und Jakob Fußhöller sind mit dem beliebten Laienspiel und dem Sprechchor äußerst innovativ. Und da ist die Kunsthistorikerin Agnes Waldstein, die sich als erste hauptamtliche Museumspädagogin des Museum Folkwang einen Namen macht. Nicht zu vergessen die beiden VHS-Gründungspersönlichkeiten Dore und Artur Jakobs.
Zeitgeschichtliches wie den Kapp-Lüttwitz-Putsch und die französische Ruhrbesetzung streifen die Streifzüge ebenfalls. Der Spaziergang durch Holsterhausen führt durch das untergegangene Essener Zeitungsviertel, in dem Theodor Reismann-Grone die Rheinisch-Westfälische Zeitung herausgibt. Als Hitler die Macht übertragen wird, steigt der Zeitungsmann auf zum ersten Nazi-OB – für Welzel ist er ein „übler Antisemit“.
Die NS-Diktatur setzt Essens Aufbruch in die Moderne ein jähes Ende. Welzel will sein Buch auch als Mahnung verstanden wissen. Er wirbt leidenschaftlich für die Demokratie und warnt eindringlich davor, „sie heute abermals leichtfertig aufs Spiel zusetzen“.