Essen. Der Essener Oberfeldwebel Daniel Steinberg war im Frühjahr als Bundeswehr-Sanitäter in Afghanistan im Einsatz. Seine Eindrücke, seine Gedanken.

Die dramatischen Bilder vom Flughafen in Kabul gehen um die Welt. Bilder verzweifelter Menschen voller Todesangst, die sich an Flugzeuge klammern und rauswollen. Es sind Bilder einer humanitären Katastrophe, die auch den Essener Daniel Sternberg anfassen. Der 33-Jährige ist Oberfeldwebel der Bundeswehr, im Frühjahr war er als Sanitäter zu seinem ersten Auslandseinsatz in Afghanistan. Die jüngste Eskalation sei für ihn „ein Schock, eine Tragödie“. Dass es so schlimm kommen würde, habe keiner geahnt.„Ich möchte mir nicht ausmalen, wie viel Angst und Kummer die Menschen jetzt haben“, sagt er.

Ursprünglich sollte Steinberg vier Monate am Hindukusch stationiert werden: im deutschen Camp Marmal im nordafghanischen Masar-e Scharif. Dass es am Ende nur 44 Tage wurden, liegt auch am überhasteten Abzug der Nato-Truppen. „Ich war einer der ersten, die zurückgeflogen wurden“, berichtet der Essener.

„In Afghanistan sterben jeden Tag Menschen“

Angriffe der Taliban habe er zwischen März und Mai nicht erlebt, aber die kämpfenden Islamisten seien überall präsent gewesen. Blutige Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und der Afghanischen Nationalarmee gehören seit Jahren zum Alltag in dem zerschundenen und zerrissenen Land. „In Afghanistan sterben jeden Tag Menschen“, berichtet der Soldat. Der Lärm von Maschinengewehr-Salven sei allgegenwärtig gewesen. Im Frühjahr sind die Taliban-Kämpfer schon dabei, das ganze Land zu überrennen. Seit wenigen Tagen haben sie die Macht im Land. Afghanistan ist ein Islamisches Emirat.

Zum Afghanistan-Einsatz hat sich Steinberg freiwillig gemeldet. Er ist „SAZ 17“, also Soldat auf Zeit für 17 Jahre. „Es gehört zum Soldatenberuf dazu, in Krisengebiete zu gehen“, sagt der Oberfeldwebel. Ein halbes Jahr haben sie ihn gründlich auf den Einsatz vorbereitet – auch auf die damit verbundenen Gefahren. Und wie hat seine Verlobte reagiert, mit der er schon seit fast zehn Jahren zusammen ist? „Ich habe alles mit ihr abgesprochen.“ Der Zeitraum im Frühjahr sei mit Bedacht gewählt worden, „weil nichts anstand – kein Geburtstags, nichts“.

Einsätze in Masar-e Scharif je nach taktischer Lage: „So wie der Hammer fiel“

Das deutsche Feldlager Camp Marmal sei eine kleine Stadt gewesen, das Lazarett ein kleines Krankenhaus. Geregelte Arbeitstage gebe es im Krisengebiet nicht, alles werde der „taktischen Lage“ angepasst. „So wie der Hammer fiel“, sagt Steinberg. Wenn seine Kameraden zu Patrouillen ausrücken, gehört er als Sanitäter mit dazu. Angst habe er in Masar-e Scharif nicht verspürt. Eher die ständige Sorge, ob zuhause in Essen alles gut laufe. Und dass die Beziehung unter dem Einsatz nicht leide.

Steinberg, Vollbart, Hoodie und Baseballcap, ist ein nachdenklicher Mensch, kein Prahlhans. Nur Verwandten und guten Freunden erzählt er von seinem Afghanistan-Einsatz ausgerechnet in der heiklen Endphase nach 20 Jahren internationaler Dauerpräsenz. Erinnerungsfotos aus Masar-e Scharif in beigem Drei-Flecktarn behält er für sich: „Privat“. Und kein Sterbenswort über Einsätze: Dienstgeheimnis.

Direkte Kontakte zu afghanischen Bevölkerung habe er nicht gehabt. „Aber das Elend im Land ist unübersehbar.“ Steinberg erlebt schroffe Widersprüche: hier die traumhaft schöne Landschaft, dort bittere Armut. Bilder, die haften geblieben sind „Die Leute starren nicht andauernd auf ihre Handys und die Kinder basteln sich selber Drachen.“

Dringende Hilfe für afghanische Ortskräfte sei eine Selbstverständlichkeit

Abzug aus Afghanistan: Bundeswehrsoldaten steigen im Juni in Masar-e Scharif in einen Militärtransporter C 17 und beenden ihren Afghanistan-Einsatz. Das deutsche Feldlager Camp Marmal war lange Zeit der größte Bundeswehr-Stützpunkt außerhalb Deutschlands.
Abzug aus Afghanistan: Bundeswehrsoldaten steigen im Juni in Masar-e Scharif in einen Militärtransporter C 17 und beenden ihren Afghanistan-Einsatz. Das deutsche Feldlager Camp Marmal war lange Zeit der größte Bundeswehr-Stützpunkt außerhalb Deutschlands. © dpa | Torsten Kraatz

Vor der ersten Niederschlagung vor mehr als zwanzig Jahren waren die Taliban blutrünstige Killer, die Frauen aus nichtigem Anlass öffentlich steinigten, Regimegegnern wahllos die Kehlen durchschnitten und Fußballstadien in Stätten für Massenhinrichtungen verwandelten. Skrupellose Verbrechen, die erklären, warum Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder jetzt auf gepackten Koffern sitzen.

Gegen die aktuelle Tragödie ist die tiefe Enttäuschung vieler Bundeswehr-Soldatinnen und -Soldaten über die mangelnde Wertschätzung durch die Politik nur eine Fußnote. Dass sie nach zwanzig Jahren riskantem Einsatz am Hindukusch nahezu unbemerkt und ohne ein aufrichtiges Dankeswort durch die Hintertür heimkehren, ist vergossene Milch.

Zurück am Bundeswehr-Standort am Flughafen Köln-Wahn und jetzt auf Urlaub in Essen verfolgt Daniel Steinberg mit gemischten Gefühlen die erhitzte Debatte hierzulande über einen Dauerkrisenherd, den bis vor vierzehn Tagen niemand so recht auf dem Radar hatte. Eine Debatte, die er oft als unsachlich oder gar hasserfüllt empfindet. „Ich lese nur fünf Minuten die Kommentare im Netz und kriege Puls.“

Dass insbesondere die afghanischen Ortskräfte, die etwa für die Bundeswehr gedolmetscht haben, nun dringende Hilfe benötigen, ist für den Oberfeldwebel eine Selbstverständlichkeit.