Essen-Horst. In Essen-Horst hat die Konditorei Ruhrmann geschlossen. Hier gab es 35 verschiedene Torten, ein offenes Ohr und eine lange Familiengeschichte.

Die Backstube ist leer, die Tortentheke bleibt es auch - für immer: Familie Ruhrmann hat sich in Horst verabschiedet. Damit hat eine der letzten Konditoreien in Essen geschlossen. Auf ein Abschiedsfest hat die Familie verzichtet. „Wir gehen so leise, wie wir gekommen sind“, sagt Ursula Ruhrmann (74). Zwischendurch aber, da war es vor allem süß - viele Jahrzehnte lang.

Ob Käse-Sahne, Mailänder, Fürst-Pückler oder Grillage: Tag für Tag füllten bunte Torten die Auslage. 35 verschiedene Sorten gab es jedes Wochenende, viele Kunden auch über die Stadtgrenze hinaus und einen Konditormeister in der Backstube im Untergeschoss: Theo Ruhrmann (77).

Theo Ruhrmann steckte im zweiten Ausbildungsjahr, als sein Vater starb

 So kannten die Kunden die Theke in der Konditorei Ruhrmann, in der es am Wochenende 35 verschiedene Torten gab.
 So kannten die Kunden die Theke in der Konditorei Ruhrmann, in der es am Wochenende 35 verschiedene Torten gab. © Ruhrmann | Foto

Konditor werden, das wollte der Horster schon in jungen Jahren. Was ihn daran bis zum letzten Arbeitstag faszinierte: „Dinge selbst herzustellen, eigene Ideen umsetzen zu können und dabei freie Hand zu haben.“ Dass er diesen Beruf jedoch bereits mit 16 Jahren im Familienbetrieb ausüben würde, das konnte er damals nicht ahnen. Denn Theo Ruhrmann steckte im zweiten Ausbildungsjahr in einem Café am Flachsmarkt. Er hatte zudem Pläne im Ausland, als dann aber sein Vater 1960 plötzlich im Alter von 50 Jahren starb. „Ich bin nach Hause gekommen, es ging ja nicht anders.“ Statt der Stelle in der Schweiz gab es die Sondergenehmigung, die Konditorei gemeinsam mit seiner Mutter vorerst ohne Meistertitel fortzuführen.

Theo Ruhrmann schloss seine Ausbildung ab, absolvierte 1965 die Meisterprüfung. Er war der jüngste Konditormeister in NRW und die dritte Generation der Familie Ruhrmann im Betrieb an der Dahlhauser Straße. 1904 hatte sein Großvater das Haus bauen lassen, in dessen Erdgeschoss sich in den Anfängen ein Lebensmittelmarkt befand. „Mein Großvater war ein Mitgründer von Edeka“, erzählt Theo Ruhrmann von der Familie, die bereits zuvor im Stadtteil verwurzelt gewesen ist.

Bei einer Feier in Horst lernte sich das Paar kennen

Aus Freisenbruch kam viel später eine junge Frau (Ursula, 16) zu einer Feier nach Horst: „Ich war erst zu schüchtern, um sie zum Tanzen aufzufordern“, erinnert sich Theo Ruhrmann. Er tat es doch. „Das Leben schreibt die schönsten Geschichten“, sagt sie heute, da sie auf ihr gemeinsames Leben blicken. Dazu zählt die Hochzeit 1968, gehören die fünf Kinder sowie fünf Enkel – und die Konditorei.

Das Bild zeigt das Haus der Familie Ruhrmann Anfang des 20. Jahrhunderts, als es an der Dahlhauser Straße 180 Lebensmittel gab.
Das Bild zeigt das Haus der Familie Ruhrmann Anfang des 20. Jahrhunderts, als es an der Dahlhauser Straße 180 Lebensmittel gab. © Steeler Archiv | Foto

Mehr als 60 Jahre lang stand Theo Ruhrmann hier in der Backstube, oftmals schon um halb drei morgens. Er ging anschließend ins Bett, wenn seine Frau tagsüber die Torten verkaufte, die er in der Nacht gebacken hatte. Einen Ruhetag gönnte sich das Paar, zuletzt zwei. Suchten die Kinder ihre Mutter, fanden sie diese stets in der Konditorei mit dem angeschlossenen Café, in dem sie die Tische für so manchen Geburtstag, für die Hochzeitsfeiern und Beerdigungen deckte. „Das war ihr Wohnzimmer“, sagt Dominic Ruhrmann (32) mit großem Respekt für die Arbeit seiner Eltern.

„Wenn andere morgens aufstehen, hatte er schon eine ganze Schicht hinter sich“, sagt er über seinen Vater und dessen arbeitsintensiven und körperlich harten Job. Verbrachten sie als Ausgleich ihre Ferien in Holland, hat sein Vater ab der zweiten Woche telefoniert: mit den Lieferanten. 14 Tage Urlaub im Jahr gab es, in manchen Jahren fiel der aus. Und dennoch galt im Alltag stets: „Die Kinder hatten immer Vorrang. Die Familie war mein Hobby“, sagt Theo Ruhrmann.

Zwei Söhne sind Konditoren, haben sich aber umorientiert

Im Café hat Dominic Ruhrmann mit angepackt, hat sich beruflich aber für Jura entschieden und studiert nun auch Wirtschaftswissenschaften. Selbst zwei seiner Brüder, die Konditoren geworden sind, haben sich inzwischen umorientiert. Hätte einer Interesse gehabt, „dann hätten wir den Betrieb ausbauen müssen“, sagt der 77-Jährige zur Wirtschaftlichkeit. Nun sucht er mit seiner Frau nach einem Mieter. So viel steht bereits fest: Ein Konditor wird es nicht sein.

Theo Ruhrmann hat Anfang der 1980er Brot und Brötchen mit ins Sortiment aufgenommen, da die Kunden danach fragten („Bäcker bin ich nicht“). Auch Puddingteilchen und Plätzchen bekamen sie. Er hat Gaststätten beliefert, hat Hochzeitstorten gebacken und von 1986 bis 2002 eine Filiale in Freisenbruch betrieben. Mehr als 40 Konditoren hat er ausgebildet und auch Gesellen beschäftigt. Aus anfänglich zwei Sorten Schokolade – Vollmilch und Zartbitter – schuf Theo Ruhrmann insgesamt 60. „Ich habe sie wieder auf 25 reduziert“, sagt er zu der süßen Tätigkeit.

„Unsere Torten machen nicht dick, sondern glücklich“

Seine große Leidenschaft aber gehörte immer den Torten. Kein Stück verließ die Backstube, das der Meister nicht probiert hatte – ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. „Unsere Torten machen nicht dick, sondern glücklich“, warb daher seine Frau mit einem Augenzwinkern und versicherte: „Wir backen keine Kalorien hinein.“ Vielmehr verbarg sich Weinbrand-Sahne hinter der Malakoff-Torte oder süße Creme in der Pralinentorte – die Lieblingstorte des Konditors und seiner Frau, so viel verraten sie. Nicht aber, mit welchen Sorgen und Nöten die Kunden manchmal zur Tür kamen, um dann an der Tortentheke ihr Herz auszuschütten.

Im Café deckte Ursula Ruhrmann die Tische für manche Feiern oder auch für Gäste, die zum Frühstück kamen. 
Im Café deckte Ursula Ruhrmann die Tische für manche Feiern oder auch für Gäste, die zum Frühstück kamen.  © Ruhrmann | Foto

Ursula Ruhrmann hat zugehört, hat im Laufe der Jahre die Kinder ihrer Kunden und Nachbarn kennengelernt. Bis die Enkel kamen, um Mandelringe oder Nusstaler zu kaufen. Zum Abschied hat sie von so vielen jetzt Blumen und Briefe bekommen. Ihre Kunden haben sich bei ihr für zahllose schönen Gespräche bedankt. „Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet und erstmal geweint“, sagt sie immer noch gerührt. Auch darüber, wie viele in den vergangenen Wochen noch einmal in die Konditorei gekommen sind. „Am Tag vor der Schließung waren wir um 14 Uhr ausverkauft“, berichtet Ursula Ruhrmann. Dann hat sich ihr Mann ein letztes Mal in die Backstube gestellt und die ganze Nacht gebacken. Für den letzten Tag am 1. August.

Seinen Beruf macht man ganz oder gar nicht

Inzwischen ist der Laden ausgeräumt, die Backstube aufgeräumt. Wenn sie nun Zeit haben werden, möchten sie sich dem etwas vernachlässigtem Garten widmen. Was sie sich sonst wünschen: „Zusammen zu leben, endlich nicht nach der Uhr“, sagt Ursula Ruhrmann. Große Pläne sind ohnehin nicht ihre Art, sie haben stets alles auf sich zukommen lassen und es gemeinsam gemeistert: „Der Laden war unser Leben.“

Und Theo Ruhrmann verrät seinen ursprünglichen Plan: „Arbeiten bis ich 90 bin, nur noch halbtags.“ Aber in seinem Beruf lasse sich die Arbeit eben nicht reduzieren, diesen macht man ganz oder gar nicht. Torten backen möchte er nun ohnehin nicht mehr: „Machen Sie mal 60 Jahre lang Torten“, sagt er schmunzelnd. Vom letzten Stück in ihrer Konditorei haben sie ein Foto gemacht – ein Bienenstich.