Essen. Das Hospiz in Essen-Steele wird 25. Das Jubiläumsfest fällt wegen Corona aus. Aber: Feiern sind im 1996 eröffneten Sterbehaus sonst kein Tabu.

Es klingt absurd: „Das Hospiz ist ein Ort, an dem das Leben geschehen darf.“ Katharina Caspelherr, Pflegedienstleiterin des Hospizes in Steele, berichtet aus 25 Jahren Alltag am Hellweg 102. Wer im Hospiz einzieht, lässt die Welt bald hinter sich. Dennoch bringen die letzten Tage für Sterbende, Angehörige und Mitarbeiter oft Überraschendes: Glück und sogar Hoffnung.

Die Gästebücher erinnern an Sterbende: hochbetagt – oder ganz jung

Die Gästebücher im hellen Flur erinnern an Menschen, die im Steeler Hospiz gewohnt haben. Frauen und Männer jeden Alters, aus allen Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten. Während einige beim Einzug nicht einmal 20 Jahre alt waren, standen andere in der Lebensmitte, viele waren hochbetagt. Seit der Einweihung am 28. Juni 1996 verbrachten hier rund 140 Sterbende pro Jahr ihre letzten Tage, so die Statistik. Günther Graßmann, Pfarrer im Ruhestand und im Vorstand des „Vereins Freunde und Förderer Hospiz Steele“, hat es überschlagen. Im Durchschnitt blieben die Gäste etwa fünfzehn Tage stationär. Viele Bewohner sind dem Team in Erinnerung.

Das Hospiz in Essen-Steele hat ein Gästebuch: Silvia Schneider schlägt eine Seite mit einem ausdrucksstarken Eintrag auf.
Das Hospiz in Essen-Steele hat ein Gästebuch: Silvia Schneider schlägt eine Seite mit einem ausdrucksstarken Eintrag auf. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Im weißen Haus mit den zehn Gästezimmern haben sich Schwerstkranke neu verliebt, und es gab sogar eine Hochzeit. Wo der Tod allgegenwärtig ist, wird gern gelacht. Bevor sie ins Hospiz wechselte, hat Caspelherr als Intensiv-Schwester gearbeitet. „Auf den Stationen sieht Sterben anders aus“, sagt sie. Während sich Sterbende in Kliniken „Maschinen und Zwecken unterordnen müssten“, würden im Hospiz „eigene Lebensgeschichten vollendet.“ Man frage dort, was den Menschen gut tue, was sie brauchen oder noch erleben wollen. Im Hospiz dürfen alle ausschlafen. „Wer sich einmal nicht waschen mag, wird nicht gezwungen.“ Und selbst ein Sekt zum Frühstück an den letzten Tagen sei erlaubt.

Restliche Lebenszeit mit Wünschen füllen

„In den Krankenhäusern werden Schwerkranke oft abgeschoben vom System. So möchten wir nicht mit Sterbenden umgehen“, fügt Graßmann hinzu. Der 69-Jährige hat 1989 als evangelischer Seelsorger den Hospizverein mitgegründet. „Ich werde gestorben“ hieße es für viele Sterbende in Kliniken. Im Hospiz hingegen dürften sie aktiv sterben, mitbestimmen und die restliche Lebenszeit mit Wünschen füllen. Nie vergessen haben Jutta Förster, 2. Vereinsvorsitzende und Leiterin des ambulanten Hospizdienstes – dem ältesten Standbein des Vereins –, wie sich zwei der Gäste ineinander verliebten. „Dieses Paar hätte sich draußen kaum gefunden. Die waren so ungleich, wie man nur sein kann.“ Beide schwerste Krebsfälle: er vom Bau, sie ganz Dame. In der Raucherecke funkte es. Sie saß an seinem Bett, als er die Welt verließ. „Jetzt habe ich keine Angst mehr vor dem Tod“, habe sie gesagt. „Er holt mich ja ab.“ Ein anderes Paar, das sich vorher kannte, feierte sogar Hochzeit im Gebäude hinter dem Krupp-Krankenhaus.

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Jutta Förster kennt viele solcher Storys. Für den ambulanten Hospizdienst des Vereins betreut die 56-Jährige mit den warmherzigen braunen Augen Sterbende und Angehörige im ganzen Stadtgebiet in den eigenen vier Wänden. Wer sie zu sich bittet, muss Offenheit ertragen. Meist sind es Angehörige, für die der Tod tabu ist. Doch Förster und ihr Team wissen, wie Sterbende aussehen. Sie sind darin geschult und haben gelernt, die vielen endgültigen Abschiede zu verarbeiten. „Bei dieser Arbeit kann ich etwas geben und bekomme etwas Großes zurück“, so Förster, ebenfalls ausgebildete Krankenschwester. „Bei uns wird nach einer langen Leidensgeschichte wieder gelacht. Wir verbringen leichte Stunden.“ Im englisch-toskanischen Garten, 2015 neu gestaltet – zu Coronazeiten mehr denn je geschätzt – genießen Bewohner und Angehörige die grüne Umgebung. Zum Jubiläum sind die Rosen in voller Blüte. Auch die Natur habe seinen Blick auf Leben und Tod verändert, fügt Graßmann an: „Was heute blüht, ist morgen verwelkt.“

Es gibt schlimme Momente, doch die Aufgabe ist erfüllend

Schicksale wie das der jungen Mutter, unheilbar an Krebs erkrankt und medizinisch austherapiert, die ansehen musste, wie ihr Mann vor ihr in der Küche an einen Schlaganfall verstirbt, wird Krankenschwester Silvia Schneider nicht vergessen. „Als diese Frau zu uns kam, hat sie eine Woche nur geschrien. So traumatisiert war sie.“ Die drei Kinder seien in einer neuen Familie untergekommen. Ein paar Tage nach der Beerdigung des Ehemanns, an der die Todkranke noch teilnahm, sei sie selbst verstorben. Schneider ist Mitarbeiterin der ersten Stunde, setzt sich seit 1996 ein für „das andere Sterben, weg von der Gerätemedizin“. Trotz solch schwerer Momente mit Freude. „Wir arbeiten gern hier, die Aufgabe ist erfüllend.“

Dass er beruflich aus einem anderen Bereich kommend, den Vorsitz im Hospizverein übernehmen würde, hatte Dr. Bernd Thunemeyer nicht geplant. Doch vor ein paar Jahren ließ sich der Soziologe nach dem Krebstod seiner Frau in Sterbebegleitung ausbilden, berichtet er bei der Rückschau. Als die Steeler 1989 anfingen, waren Hospize etwas Revolutionäres. „Der Tod hatte keinen Platz im Krankenhaus“, beschreibt Graßmann den Start. Sterbende, die in Keller oder abgelegene Flure geschoben wurden, hat auch Jutta Förster gesehen. „Schlimm“, sagt sie. Die aus England stammende Hospizbewegung holte den Tod ins Leben zurück. Vielerorts kämpften Haupt- und Ehrenamtliche dafür, die Situation der Sterbenden zu verbessern. Nicht nur in Essen, wo 1995 in Borbeck das stationäre Hospiz Cosmas und Damian eröffnete, das erste in der Stadt.

Ohne die rund 90 Ehrenamtlichen könnte der gemeinnützige Verein die große Aufgabe nicht stemmen. Und die rund 400 Mitglieder (Mindestbeitrag 30 Euro/Jahr) stehen hinter der Sache. Durch ihre Gelder sowie Spenden von Firmen und privaten Gönnern konnten etwa die Klimaanlage (2019), Projekte für Mitarbeiter und Bürger („Letzte-Hilfe-Kurs“ ab 2018) oder Fahrten im Wünschewagen finanziert werden. Der bringt seit 2014 Todkranke zu Sehnsuchtszielen. Miete wird für den Hospizaufenthalt nicht fällig, die Kosten übernehmen die Kranken- und Pflegekassen.

Eine Frau kam zum Sterben – und kehrte ins Leben zurück

„Wir empfehlen Angehörigen, die Wohnung noch nicht aufzugeben“, so Förster. Denn fünf bis sechsmal im Jahr erlebe das Team nahezu Unglaubliches: Sterbende erholen sich und verlassen das Haus lebend. „Das müssen sie dann sogar, da die Hospiznotwendigkeit nicht mehr gegeben ist.“ Ein Fall: Nach einer medizinischen Fehldiagnose – vermeintlich Lungenkrebs – erholte sich eine Frau Mitte 40. Sie hatte sich bereits von allen verabschiedet.