Essen. Weil es an Impfstoff fehlt, sinkt die Zahl der Erstimpfungen in der Messe auf nur noch 1000 Personen am Tag. Und es könnte noch schlimmer kommen.
Den letzten beißen die Hunde, und der heißt heute mal wieder Dr. Stefan Steinmetz. Der ärztliche Leiter des Essener Impfzentrums hat sich gerade an den PC gesetzt, um einem 47-jährigen chronisch herzkranken Mann per E-Mail zu erklären, was er selber nicht recht versteht: Warum die Impfkampagne so arg ins Stocken geraten ist; warum es auf Wochen hinaus in Essen keine freien Termine gibt; warum ein paar forsche junge Leute kriegen, was nicht so selbstbewusst auftrumpfende Kranke gerne hätten. Und warum die Politik nicht ihr Scheitern gesteht, sondern immer neue Versprechungen macht. „Der Unmut wächst“, sagt Steinmetz. Auch bei ihm.
Denn „es ist ja nicht die Aufgabe eines Impfarztes, immer wieder den Mangel zu erklären“. Genau den aber spüren sie auf dem Messegelände, wo inzwischen zwei großen Hallen bereitstehen, mit einer Kapazität von bis zu 3500 Impfungen am Tag, derzeit aber gerade mal rund 2000 Spritzen in die Oberarme gejagt werden – davon nur etwa die Hälfte Erstimpfungen.
„Wieso sollten wir uns mit denen anlegen? Wir sind nicht die Polizei.“
Die fünf Impfstraßen in Halle 5 – verwaist. Steinmetz hat die Ärzte abbestellt, weil das entscheidende Elixier fehlt: kein AstraZeneca, wenig BioNTech, wenig Moderna. Dafür viele erboste Bürger, die sich auf immer neu ausgetretenen Pfaden durch den Prioritäten-Dschungel verlaufen haben – und staunen, dass andere mit schwächerer Rangfolge vor ihnen zum Zuge gekommen sind. Krebskranke und Beinahe-70-Jährige bekommen keine Impftermine, während andere mit ihrer Trickserei prahlen.
Impfquote nähert sich der 50-Prozent-Marke
Trotz aller Probleme: Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen sieht beim Impfen das Glas halbvoll: „Ich freue mich über die große Bereitschaft der Essenerinnen und Essener, sich impfen lassen zu wollen“, sagte das Stadtoberhaupt am Mittwoch.
Die Impfquote liegt derzeit bei 42,5 Prozent. Dabei werden die 247.894 Impfungen zur offiziellen Einwohnerzahl 582.760 (laut IT.NRW) ins Verhältnis gesetzt. Ein nur rechnerischer Wert, denn da beim Impfen der Berufsgruppen das Arbeitsplatz-Prinzip gilt, werden in Essen auch viele Auswärtige geimpft.
Umgekehrt bekommen viele Essener ihren Pieks in Nachbarstädten. Über den Daumen gepeilt, so glaubt die Stadt, gleicht sich die Zahl der Impflinge dadurch aus.
Denn wer an der Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung im Brustton der Überzeugung behauptete, einer der vorrangigen Impfgruppen anzugehören, erhielt zuletzt einen der begehrten Termine, wurde aber beim Einlass ins Impfzentrum nicht mehr auf die Rechtmäßigkeit seiner Priorisierung überprüft, sondern kurzerhand durchgewinkt. Dr. Stefan Steinmetz will seinem Team dadurch überflüssigen Ärger ersparen: „Wieso sollten wir uns mit denen anlegen? Wir sind nicht die Polizei.“
OB Kufen: Kein gutes Verhältnis von Impf-Kapazitäten zum Impfstoff
Nur bei ganz offensichtlichen Betrugsfällen weise man Leute ab. Hie und da versucht Steinmetz es zudem mit Appellen an die Solidarität („Es könnte Ihr Opa sein, dem Sie den Impftermin wegnehmen“). Doch diese, scheint ihm, verhallen meist ungehört: „Die drei Wochen Urlaub in Italien sind wohl wichtiger.“
„Ein politisches Chaos ohnegleichen“ beklagt Steinmetz, und dass da etwas durcheinandergeraten ist, spürt auch Oberbürgermeister Thomas Kufen, der am Mittwoch rundheraus einräumte: „Unsere Kapazitäten für die Impf-Infrastruktur stehen im Moment in keinem guten Verhältnis zur Verfügbarkeit des Impfstoffs.“ An der Vorbereitung vor Ort liege es immerhin nicht, alle stünden bereit, aber ihnen seien die Hände gebunden: „Ich kann nur um Verständnis bitten“, sagt der OB.
Jetzt die Kinder impfen? „Gehen wir da nicht ein Experiment ein?“
Doch genau das bröckelt allerorten. Selbst Steinmetz als Ärztlicher Leiter des Impfzentrums hadert mit dem Plan, demnächst auch Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren zu impfen: „Gehen wir da nicht ein Experiment ein? Ich frage mich, ob das aus medizinischen Gründen gerechtfertigt ist, wenn der Impfstoff nicht einmal für jene reicht, die nachweislich das Risiko schwerer Verläufe haben“.
Schon bislang konnten 16- bis 18-Jährige, von denen es Stand Ende März 15.309 in Essen gab, mit BioNTech geimpft werden. Weitere 20.687 Zwölf- bis 15-Jährige kommen dann in absehbarer Zeit hinzu, sie sollen voraussichtlich nicht in den Schulen, sondern im Essener Impfzentrum ihren Pieks bekommen, doch auch hier gilt: von welchem Stoff?
In den ersten drei Juni-Wochen womöglich überhaupt keine Erstimpfungen
Denn von den Vakzin-Wellen, die aus dem politischen Raum ein ums andere Mal vollmundig angekündigt wurden, mal für Ende März, mal für Mitte April, dann wieder für Anfang Mai oder Ende dieses Monats sah man im Impfzentrum – nichts. Stattdessen stehe jetzt sogar zu befürchten, dass in den ersten drei Juni-Wochen überhaupt keine Erstimpfungen stattfinden können.
Dabei könnte man, glaubt Steinmetz, binnen vier Wochen unter Volllast die Essener Impfquote auf jene 70 Prozent heraufgeschraubt haben, die es für eine sogenannte Herden-Immunität braucht. Zurück bliebe dann „das Restrisiko eines jeden Einzelnen“, sich nicht impfen zu lassen. So aber wird es wohl nicht kommen. „Herr Spahn ist für all dies wahrscheinlich nicht persönlich verantwortlich“, glaubt Steinmetz, „aber dann muss ich’s doch mal zugeben: Woran lag’s?“