Essen. Mit dem Schauspiel Essen schuf die werkgruppe2 ein Porträt von „Arbeiterinnen“. Bei den Ruhrfestspielen ist das Projekt als Filmpremiere zu sehen

Sie geben den gesellschaftlich Unsichtbaren eine Stimme und ein Bild: Die Künstlerinnen des Kollektivs werkgruppe2 aus Göttingen widmen sich seit 2006 Minderheiten wie Prostituierten, traumatisierten Soldaten oder osteuropäischen Pflegekräften. Nun sind es „Arbeiterinnen“. „Man denkt bei Arbeitern nur an Männer“, sagt Regisseurin und Projektleiterin Julia Roesler. Das soll sich mit ihrem dokumentarisch geprägten Film, der auch in Kooperation mit dem Schauspiel Essen entstand und jetzt im digitalen Programm der Ruhrfestspiele zu sehen ist, ein stückweit ändern.

Angedacht war ein Bühnenwerk, das die Lebenswirklichkeit von Arbeiterinnen in den ehemaligen Bergbauregionen Ruhrgebiet und Niederschlesien spiegelt. Corona-bedingt konnte es im vergangenen Jahr nicht herausgebracht werden. Also wurde das auf Interviews beruhende Material in einen Film mit eigens dafür komponierter Musik verwandelt. Umfangreiche Gespräche sind die Basis für ihre Arbeit. „Sie sind exemplarisch und subjektiv, können aber viel Grundsätzliches sagen“, so die 42-Jährige, die diese Gespräche mit Dramaturgin Silke Merzhäuser, Judith Heese vom Schauspiel Essen und Piotr Rudzki vom Teatr Polski w podziemi realisiert hat.

Ein Leben an der Einkommensschiene zu Hartz 4

Regisseurin Julia Roesler gehört mit Silke Merzhäuser zu den Gründungsmitgliedern des Kollektivs werkgruppe2.
Regisseurin Julia Roesler gehört mit Silke Merzhäuser zu den Gründungsmitgliedern des Kollektivs werkgruppe2. © Foto: Marco Bühl

Die 21 Gesprächspartnerinnen zu finden, war keineswegs einfach. Über Veröffentlichungen funktionierte es nicht, über eigene Netzwerke schon. Alle leben an der Einkommensschiene zu Hartz 4. „Es ist schambesetzt, über Armut zu reden. Doch wenn man einmal eine Tür geöffnet hat, gibt es eine Bereitschaft, über Nöte zu sprechen“, weiß Julia Roesler. Aus den Interviews kristallisierten sich sechs Frauen aus drei Generationen heraus, die vom Verlust von Arbeit, Muttersein, von Negativerfahrungen in Beziehungen und politischer Verortung berichten.

Die Schließung von Zechen oder dem Telekommunikationskonzern Nokia haben unter anderem zum sozialen Abstieg geführt. Aber „auch Kinder zu haben, ist ein Armutsrisiko“. Die Folgen sieht die werkgruppe2 in Polen im politischen Ruck nach rechts. „Die PIS-Regierung ist mit Unterstützung der Arbeiterschaft entstanden“, betont die Regisseurin und fragt: „Steht das in Deutschland bevor, wenn man Angst und Sorgen nicht ernst nimmt? Wir wollen verstehen, warum diese Menschen desillusioniert sind und nicht mehr SPD wählen.“

Keine Bilder von klassischer Armut bedienen

Aus den Erzählungen entstand ein Textgeflecht für sechs individuelle Porträts. Diese Fiktionalisierung dient zum einen der künstlerischen Freiheit, zum anderen bietet es einen Schutzraum für die beteiligten Frauen. Drei Schauspielerinnen aus Essen und drei aus Polen verkörpern sie, tragen zum Teil ihre Originalkleidung, die ihnen abgekauft wurde für den Prozess der Annäherung. Aufgenommen in angemieteten Wohnungen, die keine Bilder von klassischer Armut bedienen, sind die Aussagen so montiert, als würden sich die Protagonistinnen unterhalten und verstehen - auf Deutsch und Polnisch.

Der Einbruch von Corona in diesen Arbeitsprozess hat für die Akteurinnen nicht nur selbstständiges Schminken, Kostüme per Post und Proben per Zoom bedeutet und von den Macherinnen ein hohes Maß an Flexibilität zwischen Kreativität und Kinderbetreuung gefordert. Er hat vor allem das Leben der Arbeiterinnen beschädigt. „Einschneidend“ nennt Julia Roesler die Auswirkungen. „Einer Frau wurde der 450-Euro-Job nicht verlängert. Von einer anderen Frau ist der Mann an Corona verstorben. Menschen, die schon wenig haben, sind noch mehr betroffen.“