Essen. Das Kandidaten-Trio für Berlin steht, der nächste Mitglieder-Rekord ist nah. Da tut nicht weh, dass der Abgeordnete neulich einen Dämpfer bekam.

Die Chance aufzuhören, wenn’s am schönsten ist, die hat er kurioserweise dann doch verpasst. Dazu hätte Kai Gehring als Grünen-Vorsitzender einfach noch weiter im Amt bleiben müssen: Der Zulauf zur Partei ist in Essen jedenfalls ungebrochen, erst in der vergangenen Woche haben sie das 777. Mitglied aufgenommen – gut 60 binnen eines Monats. Die geknackte 800er-Marke? Scheint nur eine Frage der Zeit. „Ich muss mich selbst manchmal kneifen“, sagt Gehring den die NRW-Grünen dieser Tage auf Platz 16 der Landesliste gewählt haben. Das ist gut für ihn. Aber nicht nur.

Gut, weil es bei den erwarteten Wahlergebnissen für die Grünen locker reicht, um dem 43-Jährigen eine weitere, seine mittlerweile fünfte Mandats-Periode im Deutschen Bundestag zu sichern. Dies aber eben nur, weil es diesen grünen Höhenflug gibt. Denn vor vier Jahren schafften es nur zwölf NRW-Grüne ins Parlament, Gehring rangierte damals noch auf Platz 10.

Ein großzügiger Blick auf die Landesliste als ein „Gesamtkunstwerk“

Sechs Plätze hat er bei der Nominierung also verloren – ein Grund sich zu grämen? Iwo, sagt Gehring da und wirkt kein bisschen enttäuscht. Umfragewerte weit jenseits der 20-Prozent-Schwelle erlauben ganz offensichtlich eine im Politikbetrieb auch der Grünen bemerkenswerte Großzügigkeit. So eine Landesliste sei ja schließlich immer auch ein „Gesamtkunstwerk“, bei dem alle möglichen Strömungen berücksichtigt sein wollen, erfahrene Leute neben neuen. Und wenn die bundesweit bekannte Islamwissenschaftlerin und Publizistin Lamya Kaddor aus Duisburg nicht auf dem „Männer“-Platz 12 gelandet wäre, wer weiß hätte es Gehring womöglich auf Platz 14...

Geschenkt. Das Ruhrgebiet wird demnächst jedenfalls besser denn je aus grüner Sicht in Berlin vertreten, denn auch ein Mandat für Franziska Krumwiede-Steiner, die im Essen-Borbeck/Mülheimer Wahlkreis antritt, gilt mit ihrem Listenplatz 29 als sehr wahrscheinlich. Nur zwei weitere Grüne auf der Landesliste müssen sich definitiv keinen Berliner Stadtplan besorgen: Die neue Essener Parteivorsitzende Anna-Lena Winkler auf Platz 65 und Bezirksvertreterin Christine Müller-Hechfellner, zugleich Direktkandidatin im Nord-Ost-Wahlkreis, auf Platz 79 sind eher der Form halber platziert.

„Dass wir demnächst regieren, wird fast schon als als gegeben angesehen“

Aber auch so sind die Erwartungen an die Grünen hoch gesteckt, Kai Gehring spürt das jeden Tag – im Guten wie im Schlechten. Er selbst hat in 16 Berliner Jahren nur die Oppositionsbank drücken dürfen, da ist er selbstredend bei denen, die darauf hoffen, dass sich im grünen Sinne „an entscheidenden Stellen wirklich was ändert“.

Und registriert auch jene, für die Grüne ein rotes Tuch sind: „Alle gegen uns“, heiße die Devise. Dies zeigt für ihn, dass der Aufstieg der Partei nicht nur einem kurzfristigen Hype zu verdanken sei, der bald wieder vorübergeht: „Das ist die neue Stabilität“, findet er: „Dass wir demnächst regieren, wird fast schon als gegeben angesehen.“ Neulich bescheinigte ein Internet-Portal Gehring sogar Chancen, Matthias Hauer von der CDU das Direktmandat im Süden abzuluchsen. Naja, sagt er da: Statistik habe er als Sozialwissenschaftler auch mal gehabt – und findet die Berechnung dann doch etwas gewagt.

Von Klimaschützern fühlt Gehring sich „nicht getrieben, sondern angetrieben“

Aber der Druck zu liefern wächst, auch bei den eigenen Leuten. Dass die alte Politiker-Garde sich im Wettbewerb mit den neuen Mitgliedern behaupten, dass sie sich mitunter auch rechtfertigen muss, ist unverkennbar. Sind sie schon jetzt Getriebene der Klima-Bewegung, der Umweltgruppen, die allerorten aus dem Boden sprießen? „Nicht Getriebene, sondern Angetriebene“, glaubt Gehring und sieht darin eher Motivation als Last.

Und mit dem Erwartungs-Management kenne man und frau sich ja aus: „Das war auch in den 1990ern so, da erwartete auch niemand den Sofortausstieg bei den Atomkraftwerken, das ist also nichts Neues für uns“, glaubt Gehring. Es gehe darum, Prozesse voranzutreiben. Und wenn mancher den Grünen allzu große Beweglichkeit vorwirft, hält er dem entgegen, man wolle „sicher nicht um jeden Preis“ mitregieren. Aber „jede Regierung mit Grünen ist besser als eine ohne“. Und sich selbst wollen sie kein Bein mehr stellen: „Die Grünen sind noch nie so sehr mit sich im Reinen gewesen wie jetzt.“