Essen. Abschied nehmen, wenn die politische Bilanz noch hell strahlt: Gönül Eğlence und Kai Gehring räumen von sich aus die Parteispitze der Grünen.
Aufhören, wenn’s am schönsten ist – gerade in der Politik fällt das vielen ausgesprochen schwer. Umso überraschender für manchen, dass bei den Essener Grünen jetzt ohne Not und Streit um Personen oder Positionen ein Wechsel an der Parteispitze ansteht: Gönül Eğlence und Kai Gehring räumen ihre Sprecherposten, und zwei Neue stehen an diesem Donnerstag in den Startlöchern: Anna-Lena Winkler und Markus Ausetz.
Keine leichte Aufgabe für sie, denn einen Aufschwung, wie es ihn mit dem alten Duo gab, muss das neue Team erstmal hinbekommen: die Mitgliederzahl verdoppelt, die Wahlergebnisse für Europa und Kommune auf Rekord-Niveau, und in vier Wahlbezirken zum Stadtrat ließ man und frau die versammelte Konkurrenz hinter sich und errang erstmals das Direktmandat.
Fast ein kompletter Neuanfang im Vorstand
Mehr Erneuerung war nie bei den Grünen: Auch Stephan Neumann und Ursula Schweitzer, Frank Münter und Amanda Steinmaus räumen ihre Beisitzer-Posten im Vorstand.Ursprünglich hätten die Grünen im Spätsommer 2020 turnusgemäß ihren Vorstand gewählt. Für den Kommunalwahlkampf und die anschließenden Kooperationsgespräche mit der CDU segnete eine Mitgliederversammlung eine Verlängerung der Amtszeit ab.
Ein Abschied aus der Parteispitze, der hie und da wie ein Anlauf aussieht
Wer sein politisches Handwerk gelernt hat, schreibt sich das kurzerhand selbst auf die Fahnen – unabhängig von der Frage, was davon nun tatsächlich eigenem Bemühen, dem Bundestrend oder schlicht dem auch in der Politik nötigen Quentchen Glück zu verdanken ist. Mit nunmehr 16 von 86 Ratsmitgliedern und einem mit großer interner Mehrheit besiegelten schwarz-grünen Kooperationsvertrag für die kommenden fünf Jahre Ratsarbeit befinden sich die hiesigen Grünen jedenfalls auf dem Zenit.
„Der gewachsene Zuspruch (...) ermöglicht uns mehr Zukunftsgestaltung in Essen, von der ökologischen bis zur sozialen Frage“, betont denn auch stolz der künftige Ex-Sprecher und grüne Bundestagabgeordnete Kai Gehring zum Abschied aus dem Amt. Der 43-Jährige peilt zum fünften mal den Einzug ins Berliner Parlament an und hätte im Falle einer grünen Regierungsbeteiligung im Zweifel die Hände frei für neue Aufgaben, vielleicht mehr Verantwortung.
Auch bei Gönül Eğlence sieht der Rückzug ein wenig wie der Versuch aus, neuen Anlauf zu nehmen: Ihr werden Ambitionen für eine Landtags-Kandidatur nachgesagt, die bei einem anhaltenden Zuspruch für die Partei im Frühjahr 2022 durchaus auch in Erfüllung gehen könnten.
Erst die Vornominierung, dann die Briefwahl bis zum 23. Februar
Dass die grüne Erfolgswelle derweil in Essen nicht versandet, muss der Job der neuen Parteispitze sein: An diesem Donnerstagabend wird allerdings – Corona sei’s geklagt – nur vornominiert. Gut 700 Mitglieder sind aufgerufen, im Rahmen einer Videokonferenz zur verdeckten digitalen Abstimmung zu schreiten. Erst danach folgt die verbindliche Briefwahl, die bis zum 23. Februar ein Ergebnis bescheren soll. Dass den beiden einzigen Kandidaten für die Sprecher-Posten, Anna-Lena Winkler und Markus Ausetz, auf den letzten Metern noch jemand dazwischenfunkt, gilt als unwahrscheinlich.
Und dennoch legen beide Wert darauf, die Wahl nicht als bloße Formalie anzusehen: Man will, verständlich, nicht die Einigkeit in einer Partei aufs Spiel setzen, die „längst mehr ist als eine reine Öko-Partei“, wie Ausetz sagt: Ein politischer „Vollsortimenter“, bei dem er helfen will, neben den akuten Themen von Klima- bis Artenschutz auch all den anderen relevanten Themen zur Geltung zu verhelfen.
Vertrauensvorschuss für ihn, 20 Jahre Partei-Erfahrung bei ihr
Der Vertrauensvorschuss für den 52-jährigen Juristen, einst Direktor des Amtsgerichts in Steele und derzeit beim Oberlandesgericht in Hamm beschäftigt, ist beachtlich, schließlich gehört er der Partei gerade mal seit zwei Jahren an. Partei-Erfahrung bringt dagegen Anna-Lena Winkler mit, die seit 20 Jahren der Partei angehört: Die 38-jährige Kulturwissenschaftlerin, Programmleiterin bei einer Duisburger Stiftung, erwartet derzeit ihr drittes Kind, war zuletzt Beisitzerin im Grünen-Vorstand und erlebt eine Hochkonjunktur für jene Themen, die ihr am Herzen liegen: Beruf und Ehrenamt zu vereinbaren, Homeoffice zu ermöglichen – aktueller geht es kaum.