Essen. Trotz Bauchgrimmen sollen die Stadtwerke noch einmal 5,9 Millionen Euro für die Steag locker machen. Auch so wird die Sanierung ein Kraftakt.
Corona ist schon schlimm genug. Kein Wunder, dass der Essener Stadtpolitik ein tiefer Seufzer entfährt, wenn in diesen Tagen noch zwei andere, wenn auch nur sprichwörtliche Seuchen hinzukommen: Pest und Cholera. Man hat die Wahl: Keinen müden Euro mehr für die Steag? Dann trudelt der in Essen beheimatete Energiekonzern seiner Pleite entgegen. Und wenn die Stadt noch ein letztes Mal mit einer Finanzspritze nachhilft, weitere 5,9 Millionen Euro zu den gut 76 Millionen beisteuert, die schon im Feuer stehen? Dann weiß niemand, ob dies wirklich was nützt. Aber die Chance ist da, und deshalb haben sich CDU, Grüne und SPD entschieden: Variante 2, Cholera, das Geld kommt.
Aber es geht einher mit massiven Bauchschmerzen, die man in Zeiten wie diesen lieber nicht auf dem Marktplatz und nicht einmal im nichtöffentlichen Teil der Ratssitzung diskutieren mag: zu viel Publikum. Stattdessen wird die Millionen-Spritze demnächst über die Stadtwerke abgewickelt, dafür braucht es nur den Segen des Aufsichtsrates.
Essens Stadtwerke – beteiligt mit 15 Prozent an der Steag
Vor zehn Jahren kauften sieben Stadtwerke aus sechs Ruhrgebiets-Städten dem Evonik-Konzern 51 Prozent des Kohle-Verstromers Steag ab, 2014 erfolgte dann in einer zweiten Tranche die Übernahme auch der verbliebenen 49 Prozent. Kaufpreis insgesamt: rund 1,2 Milliarden Euro.
Gebündelt wurden die Anteile in einem Zusammenschluss namens KSBG Kommunale Beteiligungsgesellschaft GmbH & Co.. Beteiligt sind daran die Dortmunder Stadtwerke AG (DSW21) mit 36 Prozent, die Stadtwerke Duisburg AG mit 19 %, die Stadtwerke Bochum Holding GmbH mit 18 %, die Stadtwerke Essen AG (SWE) mit 15 % und die Energieversorgung Oberhausen AG (EVO) sowie die Stadtwerke Dinslaken GmbH (SD) mit jeweils 6 %.
Bei der nun fälligen Finanzspritze von 30 Millionen Euro scheren die Stadtwerke von Bochum und Oberhausen aus, entsprechend steigt der Beitrag der Stadtwerke Essen von eigentlich fälligen 4,5 auf 5,9 Millionen Euro.
Von der Hoffnung auf „blühende Energie-Landschaften“ ist nicht viel geblieben
Das atmet so gar nichts mehr von jener Aufbruchstimmung, mit der vor zehn Jahren der Kauf der Steag durch die Stadtwerke von sechs Ruhrgebiets-Kommunen gefeiert wurde. Es war ein Versprechen von „blühenden Landschaften“ im Energiemarkt, die „Vision“ eines kommunalen Energie-Erzeugers, der den Wandel von der fossilen Vergangenheit in eine erneuerbare Zukunft schafft.
Die Chancen wurden in kiloweise Unterlagen wortreich beschrieben und die Risiken durchaus erwähnt, aber sie brachten niemanden wirklich um den Schlaf. Dass nicht genug Geld für die Ausschüttung an die Stadtwerke vorhanden ist? „Ausgesprochen unrealistisch“, hieß es damals wörtlich. Die Probleme – eher theoretischer Natur. Dass man keinen finanzstarken internationalen Partner findet: ein „hypothetischer“ Gedanke.
Sich als Kommunen auf den Kauf der Steag einzulassen, „war ein politischer Fehler“
Heute weiß man es besser, aber die Häme hält sich in Grenzen. „Mit dem Wissen von heute die Entscheidungen von damals zu beurteilen, das ist mir zu einfach“, sagt Fabian Schrumpf (CDU), der beim Kauf der Steag noch in der Bezirksvertretung das politische Geschäft lernte. Und Hiltrud Schmutzler-Jäger (Grüne) übt anno 2021 eher Selbstkritik, als sich an anderen abzuarbeiten: „Heute tut’s mir in der Seele weh, dass wir uns darauf eingelassen haben. Das war ein politischer Fehler.“
Eine Erkenntnis, die vielen schon dräute, als die Steag die Rendite-Erwartungen ihrer neuen Eigentümer noch locker bedienen konnte. Denn das Gefühl des Ausgeliefertseins wurde die örtliche Politik vom ersten Tag an nicht los: Wo sonst über marode Schultoiletten, verkaufsoffene Sonntage und ein Grillverbot auf öffentlichen Grünflächen debattiert wird, drehte man plötzlich das ganz große Energie-Rad: Nun war man – wenigstens indirekt – auch für (Kohle-)Kraftwerke in der Türkei, in Kolumbien oder auf den Philippinen zuständig, für Geothermie-Bohrungen im vulkanischen Boden Indonesiens oder Windparks in Rumänien.
„Es ist doch so, dass wir bei der Steag nie was zu flöten hatten“
Das ging einige Jahre gut, doch mit dem Wandel auf dem Energiemarkt kam die Steag in Turbulenzen. Vor allem der Kohleausstieg bis 2038 muss einem Energiekonzern dicke Luft bescheren, der im vergangenen Jahr nahezu die Hälfte seines Umsatzes in Deutschland in der konventionellen Energieerzeugung erzielt. Hinzu kamen falsche Weichenstellungen im Sektor der Erneuerbaren, Doppelstrukturen, hohe Abschreibungen aus riskanten Projekten – so sieht es jedenfalls die Unternehmensberatung Roland Berger in ihrem hunderte Seiten starken Sanierungs-Gutachten, mit dem sich die Politik seit der vergangenen Woche herumschlägt.
Nur die wenigsten nehmen sich die Zeit, tiefer darin zu schürfen, und müssen am Ende vielfach doch kapitulieren, wenn von „Hedge Accounting“, „Fuel Switch“ und „wärmegeführter Beschäftigung“ von Kraftwerken die Rede ist und für das Milliarden-Unternehmen Steag seitenlange „Cash flow“-Berechnungen angestellt werden. „Es ist doch so, dass wir bei der Steag nie was zu flöten hatten“, sagt ein Beteiligter achselzuckend, zu komplex die Materie und der Glaube, auf Augenhöhe mitmischen zu können, ein ernster „Fall von Selbstüberschätzung“.
Nullrunden für die Belegschaft – von Essen bis ins ferne Indien
Nur dass es jetzt Spitz auf Knopf steht, ist allen klar, dass im Zuge der nun dringend erforderlichen Sanierung binnen weniger Jahre über 1548 Vollzeit-Jobs abgebaut werden sollen, gut 800 davon in Deutschland, dass man einzelne Energie-Projekte, ganze Tochterfirmen und Grundstücke losschlagen will, dass Nullrunden für die Steag-Belegschaft anstehen, bis nach Indien übrigens.
Die RAG-Stiftung wird diesen geordneten Rückzug samt Umbau managen, das hat die lokale Politik im März schon beschlossen. Dass man noch einmal Geld nachschießen muss, war nicht nur für Ingo Vogel (SPD) und sein Rats-Team „erstmal unverständlich“, aber man trägt es mit. Mit Bauchschmerzen. Denn der Steag jetzt „den Stecker zu ziehen“, wie es ein hochrangiger Verwaltungsbeamter ausdrückt, „wer will dafür die Verantwortung tragen?“
5,9 Millionen gelten als überschaubarer Einsatz, um noch deutlich mehr zu retten
Schon wahr, es wurde schon viel Geld investiert, aber die 5,9 Millionen Euro, die jetzt noch einmal abgerufen werden, gelten als überschaubarer Einsatz, mit dem sich im besten Fall im Zuge eines Verkaufs ein Großteil, wenn nicht gar der komplette Einsatz wiederholen lässt. Es ist, so viel macht immerhin die Fraktionschefin der Grünen Hiltrud Schmutzler-Jäger deutlich, die allerletzte Rate: „Wenn dann noch einmal eine Forderung kommt, sind die Grünen definitiv nicht mehr dabei.“
Ob und wieviel Lehrgeld der Ausflug in die große weite Welt der Energieerzeugung kostet, erweist sich wohl erst in ein paar Jahren. Die Stadt Essen jedenfalls scheint „geheilt“ vom Versuch, in der kommunalen Familie das große Ding zu drehen. Pest hin, Cholera her, die Ansteckungsgefahr scheint gebannt.