Essen. Michaela Mengel hat ihre 23-jährige Tochter an Corona verloren. Der Bundespräsident lud die Essenerin ein, ließ sie von ihrem Schmerz erzählen.

Annalena war ein Sonnenschein und immer guter Laune. Sie ging morgens fröhlich aus dem Haus, kehrte mittags glücklich zurück. Annalena brauchte mit 23 Jahren noch so viel Aufmerksamkeit wie ein Kleinkind, und ihre Mutter musste für die schwerbehinderte Tochter viel erkämpfen. „Das war anstrengend“, sagt Michaela Mengel. „Und nun hätte ich diese Probleme so gern zurück.“ Annalena ist im Januar an Corona gestorben.

Der Bundespräsident lud Hinterbliebene ein

Der frühe Tod ihrer Tochter hat eine Lücke gerissen, die sich niemals schließen lässt. Als die Trauer ganz frisch war, entdeckte Michaela Mengel (54), dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Gespräch mit Hinterbliebenen plant. Kurzentschlossen schrieb die Essenerin ans Präsidialamt, erzählte von ihrem Schmerz und davon wie bitter es sei, „dass immer nur über die alten Menschen gesprochen wird, die an Corona sterben. Was mit den jungen Opfern ist, scheint keinen zu interessieren“.

Nur Tage später bekam sie eine Einladung von Steinmeier, am 5. März ihre Geschichte zu erzählen, per Video-Schalte ins Schloss Bellevue in Berlin: Sie im Gespräch mit dem Bundespräsidenten – und in den Fernsehnachrichten. „Das hab’ ich erst mitgekriegt, als die Nachbarin sagte, sie habe mich gesehen.“

Sie war behindert – und blieb immer das absolute Wunschkind

Mit den Tränen kämpfend spricht sie von den letzten Tagen im Leben ihrer Tochter, die trotz ihrer Behinderung nicht so früh hätte sterben müssen. Sie habe eine eher normale Lebenserwartung gehabt, sagt Michaela Mengel. Erst mit 16 Jahren bekam Annalena die Diagnose Phelan-McDermid-Syndrom: Mit einer noch jungen Diagnostik fand die Humangenetik der Uniklinik Essen den seltenen Gendefekt, der zu Muskelschwäche, motorischen und mentalen Störungen führt.

Jeden Abend zündet Michaela Mengel vor dem Bild ihrer verstorbenen Tochter Annalena eine Kerze an.
Jeden Abend zündet Michaela Mengel vor dem Bild ihrer verstorbenen Tochter Annalena eine Kerze an. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Manches davon war schon nach der Geburt im Mai 1997 und im Kleinkindalter aufgefallen. Annalena fehlte die Körperspannung, sie lernte erst mit zwei Jahren laufen und die wenigen Worte, die sie sich aneignete, vergaß sie wieder. Die Ärzte waren ratlos, testeten Annalena auf viele Krankheiten – ohne Ergebnis. „Sie war geistig behindert, konnte nicht sprechen, musste gewickelt werden“, sagt ihre Mutter. Aber an einem habe sich nie etwas geändert: „Sie war ein absolutes Wunschkind.“

Sie machte gern Krach, war unheimlich fröhlich

Sie bekam Therapien, besuchte den integrativen Kindergarten, eine Förderschule und zuletzt die Werkstätten der Gesellschaft für soziale Dienstleistungen Essen (GSE). Annalena habe nicht wirklich arbeiten können, aber wenn gemalt wurde, habe sie hingebungsvoll Krickelkrakel-Bilder gefertigt. Sie habe leicht autistische Züge gehabt und sechs Stunden lang Legosteine aneinanderhauen können. „Je lauter, desto besser. Das macht einen fertig. Aber sie war unheimlich fröhlich dabei.“

Als sie erfuhr, dass Annalena am Phelan-McDermid-Syndrom leidet, habe sie gewusst: „Ich bin nicht allein der Welt.“ Über Facebook hat sie sich mit anderen Betroffenen ausgetauscht. Seit der Trennung von ihrem Mann 2005 kümmerte sich Michaela Mengel allein um ihre Tochter. Wenn die mal wieder ins Krankenhaus musste, ging sie mit.

Tausende Male hat sie gesagt: „Mami kommt gleich wieder.“

Ohne das große Wohlwollen ihrer Chefs hätte sie das alles kaum stemmen können: Sie ist seit 30 Jahren Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte in einem Familienunternehmen, konnte wenige Wochenstunden arbeiten und frei machen, wenn Annalena krank war. Alle zwei Jahre machten beide eine Kur am Steinhuder Meer: Aufatmen.

Der Gendefekt bringt Schlafstörungen mit sich, nur an der Seite ihrer Mutter schlief Annalena gut. Auch tagsüber konnte Michaela Mengel sie nur Minuten allein lassen. „Mami kommt gleich wieder.“ Tausende Male hat sie das gesagt: Wenn sie den Müll rausbrachte oder wenn sie ihre Tochter in Pandemiezeiten im Auto warten ließ, um in den Supermarkt zu gehen – um Annalena keinem Risiko auszusetzen. Im ersten Lockdown harrten die beiden zwei Monate zu Hause aus, weil die Behindertenwerkstätten geschlossen waren.

Seltener genetischer Defekt: Weltweit nur 3000 Diagnosen

Das Phelan-McDermid-Syndrom (PMD-Syndrom) ist ein seltener genetischer Defekt. Es wird auch Deletion 22q13 genannt, weil bei den Betroffenen ein Teil des langen Armes des Chromosoms 22 fehlt. In diesem Segment befände sich normalerweise das Gen PROSAP2/SHANK3.

Betroffene mit PMD_Syndrom haben eine verzögerte psychomotorische Entwicklung, eine gestörte Sprachentwicklung sowie einige körperliche Merkmale, etwa eine erhebliche Muskelschwäche. Sie leiden unter einer mentalen Entwicklungsstörung, die unterschiedlich schwer ausgeprägt ist. Viele haben autistische Verhaltensweisen, Anfallsleiden und Schlafstörungen.

Die Krankheit ist selten, weltweit wurde die Diagnose bisher etwa 3000 mal gestellt. Genetiker können das PMD-Syndrom heutzutage durch die Untersuchung einer Blutprobe identifizieren, wozu sie einen speziellen Test nutzen: Mit der CGH Array (Array-based Comparative Genomic Hybridization) lassen sich Chromosomenveränderungen nachweisen, die so klein sind, dass sie in der konventionellen Chromosomenanalyse nicht erkannt werden können.

Weitere Informationen gibt es bei der Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V. in Ulm: https://www.22q13.info,

Michaela Mengel versteht nicht, wieso man die Werkstätten wieder öffnete, ohne zuvor die Betroffenen zu impfen, die wie ihre Tochter oft zu Risikogruppen gehören. „Annalena fehlten Gene, aber sie hatte ein Kuschel-Gen. Sie ging auf jeden zu, fasste die Menschen an.“ Und befreite sich oft von der Maske. Vielleicht hätte sie besser in einem persönlichen Lockdown bleiben sollen, denkt ihre Mutter jetzt. „Aber sie ist da sehr gern hingegangen.“

Mit Blaulicht wurde die junge Frau ins Uniklinikum gebracht

Bis es ihr kurz vor Weihnachten plötzlich sehr schlecht ging. Am 22. Dezember kam das positive Corona-Ergebnis, Quarantäne. Am Morgen des Heiligen Abends rief Mengel den Rettungswagen, weil ihre Tochter apathisch war, nur noch röchelte. Mit Blaulicht wurde die junge Frau ins Uniklinikum gefahren, auf die Intensivstation gebracht. Zum ersten Mal durfte Michaela Mengel nicht bei ihr bleiben, sagte wie immer: „Mami kommt wieder.“

Doch die Mutter, die selbst coronapositiv war, durfte ihr Kind nicht sehen. Einmal täglich telefonierte sie mit der Klinik, jeder Anruf niederschmetternd: künstliches Koma, Lungenentzündung, septischer Schock, Dialyse, künstliche Lunge… Die Ärzte seien dabei toll gewesen, hätten sich auch um sie gekümmert.

Zum Abschied spielte sie am Klinikbett „Der letzte Tanz“ von Bosse

Als zu Silvester die Leber versagte, habe man ihr gesagt, nun könne man nichts mehr tun. Am 3. Januar rief die Klinik an: „Kommen Sie.“ Stundenlang saß Michaela Mengel bei ihrem Kind, fuhr nachts nur kurz heim, kehrte bald zurück, hielt Annalena, sagte: „Du darfst gehen.“ Die Mutter in einer Art Astronautenkluft, „mein Lenchen an Tausend Maschinen“. So feierte sie noch einmal das Leben, spielte ihr Bosse vor: „Der letzte Tanz.“ Als Annalenas letzter Tanz getanzt war, blieb sie noch fast zwei Stunden bei ihr sitzen.

Michaela Mengel hat auf dem Friedhof einen schönen Platz für ihre Tochter ausgesucht. Sie hat nun ihre Arbeitszeit erhöht, will bald umziehen: „Hier ist alles Annalena.“ Auf dem Smartphone zeigt sie kleine Clips: Annalena beim Anziehen, Spazieren, mit Bauklötzen oder vor einem Teller Nudeln. Alltag. „Sie war einmalig“, lächelt die Mutter. „Sie fehlt mehr als alles andere.“

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