Essen. Dezernent Renzel fordert weitere Kriterien zur Bewertung der Corona-Lage. Fixierung auf die Inzidenz könne zu falschen Entscheidungen führen.
Die Zahl der nachgewiesenen Infektionen steigt auch in Essen wieder an und damit ebenso die Sieben-Tage-Inzidenz, die immer noch ein wichtiger Maßstab ist bei der Frage, ob es im öffentlichen Leben Lockerungen oder Verschärfungen zu erwägen sind. Nachdem der Wert schon einmal nahe an der 50 war, kletterte er, Stand 12. März, auf 62,8 – und das dürfte noch nicht das Ende sein. Gesundheitsdezernent Peter Renzel macht das derzeit aber keine allzu großen Sorgen, denn mit steigenden Impfzahlen verliere die Inzidenz an Bedeutung. „Ich bin überzeugt, dass wir für eine gute Lageeinschätzung der Pandemie mehr als nur diesen einen Parameter benötigen“, so Renzel.
Was wie eine technische Frage klingt, ist tatsächlich von hoher politischer Brisanz und hat Folgen für das konkrete Leben. Denn immer noch gilt die Anzahl infizierter Personen pro 100.000 Einwohner als Richtwert, der darüber entscheidet, ob Geschäfte und Kultureinrichtungen öffnen dürfen oder schließen müssen, ob die Maskenpflicht ausgedehnt oder verringert wird, ob in Altenheimen Lockerungen gelten oder neue Isolierung der Bewohner droht, und vieles mehr.
Grob gesagt verläuft die Debattenfront derzeit so: Die Inzidenz wird von jenen hochgehalten, die die Lockdown-Politik der Bundesregierung stützen und von jenen infrage gestellt, die das Maßnahmen-Paket tendenziell für zu grobschlächtig halten. Die Essener Stadtspitze mit OB Kufen und Peter Renzel gehörte immer eher zu den letzteren.
Fraglich, ob die Inzidenz noch alleinige Messlatte für das Stilllegen des öffentlichen Lebens sein kann
Die Inzidenz sei relevanter gewesen, als viele alte und vorerkrankte Menschen sich mit dem Coronavirus infizierten, und es zu massenhaft schweren Verläufen und Todesfällen kam. Dank der fortschreitenden Impfung der Risikogruppen, infizieren sich nun eher jüngere Menschen, die glücklicherweise aber selten schwer erkranken. Somit ist zunehmend fraglich, ob die Inzidenz wirklich noch als Messgröße für das Stilllegen des öffentlichen Lebens herangezogen werden kann oder ob dies nicht angesichts der psychischen, sozialen und finanziellen Schäden nicht unverhältnismäßig ist.
Im Einvernehmen mit eher regierungskritischen Wissenschaftlern fordert Renzel daher, vor allem die Belastung der Krankenhäuser, die Todeszahlen und die Impfquoten als wichtige Parameter für die Beurteilung der Lage zu nehmen und die Inzidenz im Gegenzug deutlich herabzustufen. Renzel nennt als besonders schlagendes Beispiel Impf-Weltmeister Israel: „Israel hat eine Inzidenz von 275, aber kaum krankenhauspflichtige Corona-Fälle. Was schert einen dann die dritte Welle?“, fragt Renzel provokant.
Renzel hofft, dass die Entscheider und Berater der Bundesregierung umdenken
Aktuell werde die Inzidenz „wie eine Monstranz“ behandelt, die mancher unhinterfragt vor sich hertrage, was falsch sei. „Ich rechne damit, dass auch die Entscheider und Berater der Bundesebene das bald so sehen“, sagt der Gesundheitsdezernent und schiebt noch ein „hoffentlich“ hinterher.
Wie so oft, sucht die Stadt in dieser Frage den Schulterschluss mit dem Direktor der Virologie des Uniklinikums, Prof. Ulf Dittmer. Auch dieser rät, die Fixierung auf die Inzidenz aufzugeben. „Das müsste jetzt das letzte Mal gewesen sein, dass wir uns komplett an Inzidenzzahlen orientieren und Maßnahmen nach Inzidenzzahlen vorschreiben“, erklärte Dittmer nach der letzten Runde von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten, in der die Inzidenz erneut eine Schlüsselrolle erhielt. Die „100“ wurde nun als Grenze ausgewiesen, ab der Städte aufgefordert sind, ihre Corona-Einschränkungen zu verschärfen – in Duisburg etwa wird darüber bereits konkret diskutiert.
Schnelltests könnten helfen, die dritte Welle niedrig zu halten
Dittmer zufolge muss zwar damit gerechnet werden, dass die Infizierten-Zahlen wieder steigen können. Ob diese wieder zu großen Problemen in den Krankenhäusern führen, sei aber eine völlig andere Frage. Schnelltests, wie sie jetzt überall in Essen kostenlos angeboten werden, könnten helfen, die „dritte Welle“ niedrig zu halten, wobei regelmäßiges Testen überall dort am meisten bringe, wo Menschen professionell zusammenarbeiten. Andererseits: Die vielen Tests könnten die Inzidenz zusätzlich in die Höhe treiben, denn es werden sicherlich auch einige Infizierte ohne Symptomatik gefunden, so Renzel.
Renzel bleibt beim Thema Massentestungen skeptisch. Jeder Schnelltest sei nur eine Momentaufnahme. „Meine Sorge ist, dass viele, die sich demnächst schnelltesten lassen, ein negatives Ergebnis haben und sich dann gegebenenfalls unvorsichtiger als sonst verhalten.“
Hingegen sei das Impfen wirklich der Königsweg aus der Pandemie: „Schon jetzt entspannt sich die Lage auf den Stationen zum Beispiel in der Uniklinik erheblich“, weiß Renzel. Entscheidend sei also: „Impfen, impfen und nochmals impfen.“
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