Essen. Eine 77-jährige Katernbergerin muss nach einem Notfall das Philippusstift verlassen, da wegen Corona kein Bett frei sei. Damit beginnt ein Drama.

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Manchmal sagt er am Telefon noch unversehens „wir“, obwohl er offenkundig nur sich selber meint. Das steckt halt so drin nach den vielen gemeinsamen Jahren, aber natürlich weiß Heinz Meier*, dass es kein „Wir“ mehr gibt. Dass er die Zeit, die ihm mit seinen 84 Lebensjahren auf Erden noch bleibt, ohne seine Frau Gerda* wird verbringen müssen. Sie ist gestorben, am Morgen des 4. Januar, und was den Abschied so schwer machte und auch noch macht, das ist nicht der Umstand, dass sie doch sieben Jahre jünger war. Ist auch nicht die noch trauriger als sonst ausfallende Beerdigung unter Corona-Bedingungen auf dem katholischen Friedhof in Katernberg.

Nein, es ist vielmehr Meiers Verdacht, seine Frau könnte durchaus noch leben, wären da im Essener Norden vor kurzem nicht zwei Krankenhäuser geschlossen worden. Denn für Gerda Meier war an Weihnachten kein Bett mehr frei.

Land meldete noch vor vier Wochen: Es gibt keine Engpässe

Keine angespannte Situation, keine Engpässe wegen der Corona-Pandemie – das war die Antwort, die zwei SPD-Landtagsabgeordnete erhielten, als sie vor einigen Wochen in einer Kleinen Anfrage an die NRW-Landesregierung die Schließung der beiden Krankenhäuser im Essener Norden zum Thema machten.

Auch Klinik-Betreiber Contilia, dessen Tochter Katholisches Klinikum Essen (KKE) das Philippusstift betreibt, versicherte, man verfüge hinsichtlich der stationären Versorgung sogar über „freie Kapazitäten“ – Corona zum Trotz.

Grundlage der Erhebung waren sämtliche eingegangenen Beschwerdefälle von März bis Ende November 2020. Hier allerdings liegt ein Pferdefuß: Auch Heinz Meier verzichtete auf eine offizielle Beschwerde. Sie hätte seine Frau nicht wieder lebendig gemacht.

Zum Mitmarschieren bei Demos reichte seine Empörung nicht: „Ich bin kein Protestler“

Rückblende in einen Spätherbst der großen Wut und der kleinen Demonstrationen im Essener Norden: Dass hier mal kurzerhand zwei komplette Krankenhäuser – bis auf weiteres – ersatzlos dicht machen, hüben das Marienhospital in Altenessen, drüben das St. Vincenz-Krankenhaus in Stoppenberg, das hat auch Heinz Meier, na, sagen wir mal: ziemlich irritiert. „Man kann nur den Kopf schütteln“, entrüstet sich der 84-Jährige ehemalige Bergmann, der nach eigenem Bekunden „ja auch nicht mehr der Fitteste“ ist. Aber zum Mitmarschieren bei den gelegentlichen Demos reicht seine Empörung dann auch wieder nicht: „Ich bin kein Protestler.“

Zum Thema wird die Sache erst, weil es pressiert. Das Marienhospital ist schon seit Wochen geschlossen, das St. Vincenz betreut das letzte gute Dutzend Patienten, als bei Meiers an Weihnachten der Notfall eintritt: Am Vormittag des 1. Feiertags findet Heinz Meier seine Frau auf dem Boden im Badezimmer liegend. Bewusstlos ist sie nicht, aber sichtlich benommen, „ein Schwächeanfall“ denkt er, aber weil sich der Zustand nicht wirklich bessert, ruft er den Notarzt.

Die Corona-Pandemie bedeutet für das Gesundheitswesen allerorten einen Stresstest – dennoch wusste das Land NRW erst kürzlich auf eine Anfrage aus Essen zu beruhigen: Engpässe gebe es nicht, hieß es.
Die Corona-Pandemie bedeutet für das Gesundheitswesen allerorten einen Stresstest – dennoch wusste das Land NRW erst kürzlich auf eine Anfrage aus Essen zu beruhigen: Engpässe gebe es nicht, hieß es. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Nachts um halb zwei die Nachricht: „Wir bringen Ihre Frau wieder nach Hause“

Der ist auch „ruckzuck“ vor Ort und liefert Frau Meier nach einigen Messungen ins Borbecker Philippusstift ein. Ehemann Heinz mutmaßt, dass sie sie dabehalten und wartet geduldig auf eine Nachricht, was denn nun ist mit Gerda.

Weit nach Mitternacht, so gegen 1.30 Uhr, schätzt er, kommt ein Anruf von der Station. Einer, mit dem er nicht gerechnet hat: „Wir bringen Ihre Frau wieder nach Hause“, sagt die Stimme am anderen Ende, und tatsächlich fährt wenig später ein Krankentransport des Roten Kreuzes vor, trägt Gerda Meier in einem Stuhl hoch in den zweiten Stock des Mietshauses, bringt die geschwächte, aber auf Ansprache durchaus reagierende alte Dame zu Bett und legt einen Brief für den Hausarzt auf die Kommode. „Sehr viel in Arztsprache“ habe da gestanden, sagt Heinz Meier, Dinge, mit denen er nichts anfangen kann, aber so viel versteht er dann doch: Dass sie ihm auch schriftlich geben, was sie am Telefon schon beklagten, es täte ihnen leid, Gerda kann nicht in der Klinik bleiben, „wegen Corona ist kein Bett mehr frei“.

Bei der zweiten Einlieferung diagnostizieren die Klinik-Ärzte einen schweren Schlaganfall

Am Morgen darauf, es ist der zweite Weihnachtsfeiertag, registriert Heinz Meier, dass mit seiner Frau etwas nicht stimmt. Sie schlummert nicht etwa selig, sondern ist trotz Rütteln nicht ansprechbar, „weggetreten“, sagt ihr Mann, der – die Betten-Knappheit des Krankenhauses im Hinterkopf – sofort versucht, einen Arzt herbeizutelefonieren. Als nach einer gefühlten halben Stunde in der Warteschleife jemand an die Strippe kommt, heißt es, er soll doch lieber wieder die 112 wählen.

Er tut, wie ihm geheißen, doch auch der herbeigerufene Notarzt bekommt Meiers Frau nicht wach, folglich trägt man sie in einem Transporttuch hinunter zum Wagen, mit dem es wieder ins Krankenhaus geht, wieder ins Philippusstift. Dort wird ein schwerer Schlaganfall diagnostiziert. Zwei, drei Tage ist sie bewusstlos, sagt Meier, dann „wurde es ein bisschen besser“, die Bewegung kommt zurück, sie kann etwas reden. Doch der Eindruck, das werde schon wieder, er täuscht: Gerda Meier stirbt in den frühen Morgenstunden des 4. Januar.

Das inzwischen geschlossene Marienhospital in Altenessen: „Da wären wir sonst hingekommen“, sagt Heinz Meier*.
Das inzwischen geschlossene Marienhospital in Altenessen: „Da wären wir sonst hingekommen“, sagt Heinz Meier*. © FUNKE Foto Services | Ina Carolin Lisiewicz

Muss man mitten in der Nacht eine 77-jährige geschwächte Frau, nach Hause fahren?

Und hinterlässt unter anderem eine Menge Fragen: Muss man mitten in der Nacht eine 77-jährige geschwächte Frau, wieder nach Hause fahren, wo ein mit der Situation erkennbar überforderter 84-jähriger Ehemann wartet? Hat die Region – zumindest in dieser Pandemie – vielleicht doch nicht genügend Betten, wie immer behauptet wird? Und wenn man – wie offenbar bei Meiers geschehen – die Bettenknappheit mit Verweis auf das Virus begründet (was ja unterstellt, dass man die Patientin sonst wohl dabehalten hätte): Ist das nur ein Problem von Klinik-Betreiber Contilia und dem Philippusstift oder eines, das alle Krankenhäuser betrifft?

Auf Anfrage verweist die Contilia-Tochter KKE im konkreten Fall auf den Datenschutz – und bestätigt doch, dass es nächtliche Entlassungen im Philippusstift, bedingt durch die Corona-Pandemie in Ausnahmefällen durchaus gibt. Wer bleibt und wer wieder heim darf, diese Frage entscheide sich schlicht an der Frage der medizinischen Notwendigkeit, betont eine Sprecherin. Sei diese „nicht gegeben, sieht das Gesundheitssystem keine Gewährung eines stationären Aufenthaltes vor“. Die Kostenträger würden stationäre Aufenthalte dann nachträglich streichen und damit nicht erstatten.

Nächtliche Rückverlegungen sind laut KKE „nicht symptomatisch für den Essener Norden

Das klingt, als sei dies der schlimmste anzunehmende Fall: dass eine Rechnung offen bleibt. Gerda Meier rutscht in diesem Regelungsrahmen jedenfalls irgendwo dazwischen, denn „bei vorhandenen Bettenkapazitäten“ so versichert das KKE, blieben Patienten, die während der Nachtstunden in der Zentralen Notaufnahme vorstellig werden, „in der Regel eine Nacht stationär im Hause“. Nicht aufgrund einer festgestellten medizinischen Notwendigkeit, sondern um eine nächtliche Rückverlegung zu vermeiden.

Erst am vergangenen Samstag gab es die letzte Demonstration gegen die Schließung der Krankenhäuser im Norden.
Erst am vergangenen Samstag gab es die letzte Demonstration gegen die Schließung der Krankenhäuser im Norden. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Corona wegen, kam es diesmal anders, was aber, so beeilt sich KKE zu betonen, „nicht symptomatisch für den Essener Norden“ sei, sondern derzeit geübte Praxis in allen Essener Krankenhäusern. „In den Notaufnahmen muss hinsichtlich einer stationären Behandlung derzeit stark priorisiert werden“, heißt es, besserten sich aber die Symptome im Zuge der Behandlung, sei die Entlassung „medizinisch gerechtfertigt und möglich“. Das schließe „schicksalhafte Entwicklungen“ im weiteren Verlauf nicht aus. „Apoplektische Insulte“ etwa – für Herrn Meier: Schlaganfälle – „sind aus medizinischer Sicht nicht vorhersehbar“.

„Man hätte sie an Geräte anschließen können und alles unter Kontrolle gehabt“

Nicht vorhersehbar also. Das mag Heinz Meier irgendwie so nicht gelten lassen: Wenn es doch eh schon mitten in der Nacht war, „warum hält man sie dann nicht im Krankenhaus fest?“, fragt er: „Man hätte sie an Geräte anschließen können und alles unter Kontrolle gehabt.“ Er für seinen Teil denkt, dass da in der Beurteilung „einiges schief gelaufen“ sei, denn bei seinen Besuchen im Krankenhaus habe er durch offen stehende Türen auch frisch gemachte Betten gesehen, mit Folie überzogen.

Kein Bett frei?

Stattdessen ein Transport mitten in der Nacht, fraglos aufregend, erst recht für eine geschwächte 77-Jährige und für ihren 84-jährigen Mann auch, „man war ja selbst ziemlich mitgenommen“. Ein paar Straßen weiter in Katernberg hat es einen ähnlichen Fall gegeben, eine nächtliche Heimfahrt, die Sache ging gottlob besser aus. „Sauerei“, sagt Heinz Meier noch und spekuliert. Vielleicht hätte er doch demonstrieren sollen, vielleicht würde er mit einem Marienhospital in Betrieb nicht diese Geschichte erzählen müssen. Vielleicht könnte er dann weiter „wir“ sagen.

* Name von der Redaktion geändert. Für die Anfrage im Krankenhaus durften wir den Klarnamen von Herrn Meier nutzen, in Zeitung und Internet aber mag der 84-Jährige diesen nicht sehen. Seine Begründung: „Die Zeit, die mir noch bleibt, die möchte ich in Ruhe verbringen.“