Essen hat zurzeit eine hohe Inzidenz, dennoch fordert Peter Renzel von Bund und Land klare Öffnungs-Perspektiven für Handel und Dienstleistung.
EssenEs klingt auf dem ersten Blick widersprüchlich: Essen hat zurzeit mit immer noch um die 100 einen vergleichsweise hohen Inzidenzwert – und dennoch plädiert Gesundheitsdezernent Peter Renzel an Bund und Land NRW, noch im Februar erste abgestufte Lockerungen bei Dienstleistern, Handel und Gastronomie zuzulassen und auch Wechselunterricht in den Schulen zu ermöglichen. „Dank sinkender Infiziertenzahlen wird der Druck wachsen, die Menschen brauchen jetzt Licht am Ende des Tunnels“, so Renzel. Aufgabe der Politik sei es nun, konkrete Öffnungsperspektiven mit Datum festzulegen.
Renzel bezieht sich bei seiner Forderung nach Maßhalten beim Lockdown auf Nachfrage ausdrücklich auf Hendrik Streeck, den er sehr schätze. Der Bonner Virologe – eine Art Antipode zu seinem Kollegen Christian Drosten – wirbt stets dafür, pragmatisch mit dem Virus leben zu lernen, Risikogruppen bestmöglich zu schützen und nicht Extremvorstellungen wie „Zero Covid“ zu folgen. Allein in Essen sind laut Renzel bis zu 120.000 Menschen in Kurzarbeit. Die wachsenden wirtschaftlichen und psychologischen Schäden durch den Lockdown müssen seiner Überzeugung nach bei allen staatlichen Maßnahmen immer Teil der Abwägung sein.
Wegen der hohen Qualität der Abstriche entdecke man in Essen mehr Infizierte als anderswo
Auch von seinem „Hausvirologen“ Prof. Ulf Dittmer, Direktor des Instituts für Virologie am Essener Uniklinikum, sieht sich Renzel gut beraten, wenn es darum geht, Infiziertenzahlen und Inzidenzen zu interpretieren und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. „Natürlich beunruhigt es mich, wenn die Zahlen bei uns derzeit langsamer sinken als in Nachbarstädten“, räumt der Gesundheitsdezernent ein. Allerdings sei dies erklärbar durch die „hohe Qualität“ der in Essen üblichen Abstriche.
Anders als andere Städte schicke das Essener Gesundheitsamt zu Menschen mit Corona-Symptomen immer noch sehr häufig mobile Teams nach Hause, die dank ihrer nunmehr großen Routine sehr präzise arbeiteten. „Von allen ins Labor der Universitätsmedizin gebrachten Proben sind in Essen bis zu 80 Prozent positiv“, so Renzel. Dies sei eine erheblich höhere Trefferquote als in anderen Kliniken, wie Ulf Dittmer bestätigt habe: „Was andere Universitätskliniken in einer Woche an positiven Testergebnissen haben, haben wir an einem Tag.“
In einigen Tagen müsste auch Essen unter die 100er-Inzidenz kommen
Entscheidend dafür sei die außerordentlich hohe Professionalität der Nasen-Rachen-Abstriche. Immerhin rund 54.000 der 78.000 in Essen abgenommenen Proben stammten von den mobilen Abstrich-Teams. Kurz gesagt: Wer präziser abstreicht, wird auch mehr Infektionen finden, was wiederum die Inzidenz in die Höhe treibe. Dittmer habe aber strikt dazu geraten, nicht etwa nachlässiger zu werden, nur um die Inzidenz schneller zu drücken. Peter Renzel ist dennoch optimistisch, dass auch Essen kurzfristig unter die 100er-Inzidenz fällt, da in den letzten Tagen spürbar weniger Neu-Infektionen registriert würden. Allerdings sind andere Städte wie Mülheim schon nahe bei den 50, die als Grenze für Lockerungen gilt.
Stets waren Oberbürgermeister Thomas Kufen und Peter Renzel bei jenen, die sich nicht durch autoritäre Gesten oder vorauseilende Extra-Härte bei der Einschränkung des öffentlichen Lebens hervortaten. Renzel ließ sich zitieren, er bleibe auch in der Pandemie „gelassen“, was ihm neben Zustimmung auch empörte Reaktionen eintrug. Die Frage liegt nahe: Ist die Essener Inzidenz auch deshalb schlechter, weil man zu „weich“ war, den Bürgern wo es ging Spielräume ließ und auf diese Weise beschwichtigende Signale sendete? „Das halte ich für vollkommen ausgeschlossen“, betont Renzel. In Essen sei stets alles umgesetzt worden, was gesetzlich gefordert war.
Renzel pocht darauf, dass Panik und heillose Übertreibungen schädlich sind
Das richtige Maß zu wahren bedeute keineswegs, die Pandemie zu verharmlosen. Dennoch pocht Renzel darauf, jedwede Panik und heillose Übertreibungen zu vermeiden, weil sich dies abnutze, keinen nachweisbar höheren Schutz biete, dafür aber andere Schäden produziere. „Angst essen Seele auf“, zitiert er einen Filmtitel.
Es ist aus seiner Sicht beispielsweise unnötig, mit einer FFP2-Maske in den Supermarkt zu gehen, eine OP-Maske täte es auch. Die Schutzwirkung sei für Geschäfte ausreichend: „Mit solchen Masken wird sonst am offenen Herzen operiert.“ Fassungslos machen ihn Szenen, die ihm jüngst vom Baldeneysee berichtet wurden: „Da wurde einem Jogger von einem Passanten ein Teleskopstock vor die Beine gehalten.“ Es drohte ein Sturz. Grund: Der Mann hatte angeblich beim schnellen Vorbeilaufen zu wenig Abstand gehalten.
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