Essen. Das Innenministerium zieht eine erste Bilanz seines Präventionsprojekts für Sprösslinge aus Clanfamilien. In Essen werden sieben Jungen betreut.

Das Lagebild Clankriminalität NRW kennt sie nur zu gut, die Intensivtäter aus türkisch-arabischen Großfamilien, die etwa nur sechs Prozent aller Tatverdächtigen aus dem Milieu stellen, aber regelmäßig rund 30 Prozent aller Straftaten im Clankontext hinlegen. Darunter sind auffällig viele junge Dauerkriminelle - wie jener 19-jährige Deutsch-Libanese, dem allein für das vergangene Jahr 24 Delikte vorgeworfen werden. Über 70 Straftaten sollen sich über die Jahre summiert haben, nachdem er als Elfjähriger das erste Mal mit Gesetzen und Behörden in Konflikt kam.

Damals, als das Kind das erste Mal auf die schiefe Bahn geriet, gab es weder die Politik der 1000 Nadelstiche, mit der die Sicherheits-, Ordnungs-, Verwaltungs- und Strafverfolgungsbehörden inzwischen gemeinsam gegen illegale Umtriebe in den einschlägig bekannten Familien mit allen repressiven Mitteln vorgehen, noch den vorbeugenden Ansatz eines neuen Präventionsprogramms: „Integration, Orientierung, Perspektiven! 360° - Maßnahmen zur Vorbeugung von Clankriminalität“ ist im April unter anderem in der Clanhochburg Essen, in der das Polizeipräsidium in 2019 rund 14 Prozent all dieser Straftaten im Land mit knapp 600 Verdächtigen bearbeitete, gestartet und kann inzwischen erste Erfolge vorweisen.

Es handelt sich nicht um ein Aussteigerprogramm im klassischen Sinne

Es handelt sich dabei nicht um ein Aussteigerprogramm im klassischen Sinne. Aus einer Familie steigt man eben nicht so einfach aus. Nein, Ziel ist es vielmehr, durch Unterstützung Einsicht zu gewinnen, um das Verhalten von Eltern, Verwandten und Kindern zu verändern. Dazu muss der Staat in Gestalt von Polizisten, Sozialarbeitern, Pädagogen und Kultur- wie Sprachmittlern einen Fuß in die Clanwohnzimmer bekommen, wo Alternativen zur Kriminalität als Lebensgrundlage vorgestellt werden.

Das alles ist natürlich nicht nur auf Schmusen ausgelegt. Denn die Experten der Essener „Sicherheitskooperation Ruhr“ sind überzeugt, dass ein weiterhin hoher Kontroll- und Ermittlungsdruck die Bereitschaft, solche Hilfen anzunehmen, durchaus positiv beeinflussen kann.

Inzwischen werden in Essen aktuell sieben Jungen im Alter zwischen 8 und 14 Jahren betreut, an den insgesamt sieben Projekt-Standorten in NRW sind es summa summarum 26 Kinder und Jugendliche, drei davon sind Mädchen, berichtete Innenminister Herbert Reul (CDU) auf Anfrage dieser Zeitung: „Es ist mir ein Bedürfnis, diesen Jungen und Mädchen eine Perspektive zu geben.“

Nicht wie der Cousin im Knast enden

Ihm gehe es darum, jungen Menschen, die mit einer kriminellen Karriere liebäugeln, Alternativen und Ausstiegsmöglichkeiten aus der Kriminalität aufzuzeigen. „Und ich freue mich sehr darüber, dass, wie ich höre, alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit großem Engagement dabei sind. Ihre Familien unterstützen das. Auch sie wünschen sich ganz offensichtlich, dass ihr Nachwuchs nicht im Knast endet, wie zum Beispiel der große Bruder oder der Cousin, sondern einen Platz im Leben und in der Gesellschaft findet“, ist der Innenminister überzeugt.

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Die potenziellen Kandidaten für das Programm werden nach dem immer gleichen Muster ausgewählt: Abgeklopft werden die polizeilichen Dateien nach Straftaten und ihren Verursachern, aber auch kriminalitätsfördernde Lebensumstände wie zum Beispiel delinquente Angehörige, Gewalt in der Familie, Schule schwänzen oder möglicher Drogenkonsum spielen dabei eine Rolle. Spezielle Dienststellen untersuchen die Nähe oder Zugehörigkeit der Kids und ihrer Eltern zu polizeibekannten Clanstrukturen.

Polizisten in Zivil suchen die Eltern auf

Ist eine erste Skizze entstanden, suchen zunächst Polizisten in Zivil die Eltern auf, um sich ein genaueres Bild vor Ort zu machen. Bei solchen Besuchen wird kein behördliches Drohszenario aufgebaut, sondern die Sorge um die Entwicklung des Nachwuchses thematisiert. Im besten Fall stellt sich Einsicht und die Bereitschaft ein, an dem Projekt teilzunehmen. Es mag verwundern: Doch nach Darstellung des Innenministers hat sich bislang nur eine Essener Familie verweigert - mit der Begründung, man könne sich selber helfen. Immerhin: Der Sprössling, um den es in diesem einen Fall ging, wurde nach dem Gespräch nicht mehr straffällig.

Hat sich eine Familie auf die Vorschläge der Beamten eingelassen, gehen sämtliche Informationen an die speziell für den „Clanbereich“ eingesetzten pädagogischen Fachkräfte. Diese bewerten den Kandidaten mit ihren spezifischen Expertisen und versuchen, ihre Einschätzungen im Rahmen eines zweiten Hausbesuchs zu erhärten. Erst danach und bei abschließender Zustimmung wird ein Kandidat zum Teilnehmer. Und dann beginnt die konkrete Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen, ihren Familien, wenn Pädagogen die Jugendlichen dabei unterstützen, die Schule mit einem Abschluss zu beenden, oder helfen, einen Praktikums- oder Ausbildungsplatz zu finden.

Kooperierende Familien werden nicht als Nestbeschmutzer geächtet

Bislang liegen den Behörden keinerlei Hinweise darauf vor, dass die Familien, die sich so bereitwillig mit dem Staat einlassen, als „Verräter“ oder „Nestbeschmutzer“ geächtet werden. Im Gegenteil seien die Rückmeldungen eher positiv. „Wir betreten hier echtes Neuland“, betont Innenminister Herbert Reul: „Das ist Pionierarbeit und bislang bundesweit einmalig. Wenn unser Ansatz nachhaltig funktioniert, dann bauen wir ihn aus.“