Essen. Kurze Rede, keine Debatte, kein Streit: Die erste Sitzung des neugewählten Rates diente der Postenvergabe – und dem ersten Schlag gegen die AfD.

Wer ist wer? Gar nicht so einfach, diese Frage im neuen 86-köpfigen Essener Stadtrat zu beantworten. Denn konsequenter noch als bei allen bisherigen Corona-bedingt in die Grugahalle verlegten Treffen blickte man bei der ersten Sitzung des neugewählten Rates am Mittwoch nahezu durchweg in maskierte Gesichter. In Erinnerung bleibt da von einer so noch nie erlebten Sitzungs-Premiere vor allem dies: Die Linken nahmen sich selbst aus dem Rennen. Und bei der AfD half eine große Ratsmehrheit nach.

Von einer „Ausnahme-Situation“ sprach der offiziell ins Amt eingeführte Oberbürgermeister angesichts der „Lockdown“-Regelungen – und von der Erkenntnis, „wie wichtig Gesundheit und wie verletzlich unsere Gesellschaft ist“. Corona, das sei über alle medizinischen Aspekte hinaus eben „auch eine Herausforderung für unser politisches System“.

Angst, so glaubt der OB, ist in dieser Lage „immer der schlechteste Ratgeber“

Gemeint war damit weniger der Umstand, dass ein Stadtrat mit Abstandsgebot nur eine chemisch gereinigte Variante des sonst gewohnten politischen Marktplatzes sein kann. Und dass einen die Plexiglas-Einhausung des Rednerpultes doch sehr an das Konstrukt auf dem Papamobil erinnert.

Viel Geld für die politische Arbeit

Um die Rats-Parteien arbeitsfähig zu machen, wurden am Mittwoch nicht nur die Ratsausschüsse gebildet, sondern auch die Etats der Fraktionen beschlossen.

Jede Fraktion (ab drei Mitglieder) erhält als Sachkosten-Zuwendung einen Sockelbetrag von 13.000 Euro sowie 11.000 Euro als „Kopfbetrag“ je Ratsmitglied. Hinzu kommen Personalkostenzuwendungen, gestaffelt nach Fraktionsgröße.

Bei Gruppen (ab zwei Ratsmitgliedern) und erst recht bei Einzelvertretern (die es derzeit im Rat nicht gibt) fallen die Beträge spürbar geringer aus.

Vielmehr wollte Thomas Kufen zu Beginn seiner zweiten Amtszeit deutlich machen, dass die Politik mehr denn je für ihre Beschlüsse begründungspflichtig ist. Die Pandemie, so das Stadtoberhaupt in seiner kurzen Rede, zeige, „wie das Verhalten eines einzelnen das Schicksal von vielen bestimmt“. Es gehe also um Verantwortung, aber eben auch um „Entschiedenheit und Klarheit“: Angst sei in dieser Lage „immer der schlechteste Ratgeber“.

Der eigentlich fällige Ausschuss-Vorsitz bleibt der AfD verwehrt

Aber Vorsicht muss eben sein, was in dieser konstituierenden Sitzung des Rates zu der kuriosen Situation führte, dass gleich die komplette Ratsfraktion der Linken fehlte: Daniel Kerekeš, Theresa Brücker und Heike Kretschmer mussten nach den Worten ihres Fraktionsgeschäftsführers Thorsten Jannoff in Corona-Quarantäne, keine revolutionäre Parolen also zum Auftakt im Rat.

Und von der rechten Seite – ebenso überraschend – kein einziges Wort des Protests, als eine große Ratsmehrheit aus CDU, SPD und Grünen, dazu FDP, Essener Bürger Bündnis und Tierschutzpartei mit einem gemeinsamen Antrag die Ratsausschüsse neu bildete. Und im gleichen Atemzug eine Listenverbindung einging. Folge: Der beim sonst üblichen Zugriffsverfahren fällige Ausschuss-Vorsitz für die AfD blieb der Partei verwehrt.

Keine Provokationen – und ein Appell, die Spaltung nicht zu vertiefen

Dort nahm man’s mit Fassung oder vielleicht doch eher Hilflosigkeit zur Kenntnis: „Das wird wohl rechtlich wasserdicht sein“, meinte jedenfalls Fraktionschef Harald Parussel achselzuckend. Weder wurde das Wort ergriffen noch aus Protest gegen die anderen Punkte des Antrags votiert. Die politische Konkurrenz quittierte dies mit Kopfschütteln.

Das Stellvertreter-Trio von Oberbürgermeister Thomas Kufen nach der Amtseinführung (von links): die Bürgermeister Rudolf Jelinek (SPD), Julia Jacob (CDU) und Rolf Fliß (Grüne).
Das Stellvertreter-Trio von Oberbürgermeister Thomas Kufen nach der Amtseinführung (von links): die Bürgermeister Rudolf Jelinek (SPD), Julia Jacob (CDU) und Rolf Fliß (Grüne). © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Aber Provokationen jeglicher Art blieben aus, übrigens auch vor der Grugahalle: Geschuldet vielleicht dem Bemühen, jenen „sozialen Frieden“ zu bewahren, den der OB angemahnt hatte, als er davon sprach, nirgends in der Stadt die Spaltung zu vertiefen. Ohnedies hätten „Fremdenfeindlichkeit und religiöser Fanatismus in dieser Stadt keinen Platz“.

69 von 83 Stimmen für die drei Bürgermeister von CDU, SPD und Grünen

Oder sind die giftigen Debatten nur aufgeschoben? Nach 78 Minuten jedenfalls war die erste Sitzung der Ratsperiode 2020 bis 2025 passé. Noch schnell die Hände desinfizieren und tschüss. Draußen vor der Halle hatte jemand mit Kreide „Glückwunsch Julia“ aufs Pflaster geschrieben. Das galt wohl der neuen Bürgermeisterin Julia Jacob (CDU), die mit Rudolf Jelinek (SPD) und Rolf Fliß (Grüne) ins Amt eingeführt wurde.

Mit 69 von 83 Stimmen in geheimer Abstimmung übrigens, bei zwei Enthaltungen, elf Nein- und einer ungültigen Stimme. Über Sinn und Unsinn eines dritten OB-Stellvertreters wurde auch schon mal mehr gestritten.

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