Rüttenscheid. Mit der Versöhnungskirche wird 2021 ein weiteres evangelisches Gotteshaus in Essen aufgegeben. Auch der markante Turm soll bald darauf fallen.

Der Glockenturm aus Beton mit dem leuchtenden Kreuz an der Spitze überragt das Häusermeer des Rüttenscheider Südens und ist ein weithin sichtbares Symbol. Wie ein Ausrufezeichen wirkt der markante Beton-Stift an der Alfredstraße, erkennbar hatten es die Erbauer auf Effekt angelegt – die Architekten der Kirchen in den 1960er Jahren verstanden davon genauso viel wie ihre Vorgänger in Jahrhunderten zuvor. Das Bild wird allerdings bald der Vergangenheit angehören, denn nach den Pfingst-Gottesdiensten 2021 werden die evangelische Versöhnungskirche und ihr Turm außer Dienst gestellt, später dann auch abgerissen.

Den Gemeinden fehlen die Einnahmen, um die viel zu großen Immobilien zu erhalten

Wieder endet also ein kirchliches Kapitel in Essen, es ist die immergleiche Geschichte, die nun auch im Rüttenscheider Süden erzählt wird: Erst fehlen die Gläubigen, die in immer größerer Zahl den Kirchen den Rücken kehren, dann fehlen den Gemeinden die Einnahmen, um die viel zu groß gewordenen Gotteshäuser zu unterhalten. Wenn dann noch größerer Sanierungsbedarf entsteht, was die Regel ist, sind Verkauf und Abriss der Gebäude fast unausweichlich.

Die Gebäude der Versöhnungskirche. Links neben dem Eingang der Kirchensaal, rechts der Gemeindetrakt, vielen Nachbarn zumindest von diversen Wahlen her als Wahllokal bekannt.
Die Gebäude der Versöhnungskirche. Links neben dem Eingang der Kirchensaal, rechts der Gemeindetrakt, vielen Nachbarn zumindest von diversen Wahlen her als Wahllokal bekannt. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Schon im Jahr 2015 fusionierte die Versöhnungskirchengemeinde mit der zentraler in Rüttenscheid gelegenen Reformationskirche, was den finanziellen Druck etwas milderte. „Schon damals war aber klar, dass unsere Kirche nicht würde erhalten werden können“, sagt Pfarrer Jörg Herrmann, der 2012 die Versöhnungskirche übernahm.

Sanierungsbedarf bewegt sich im hohen sechsstelligen Bereich

Wirklich voll besetzt hat der 57-jährige Theologe den großzügigen Kirchenraum nach eigenen Angaben schon lange nicht mehr erlebt. Angesichts der finanziellen Rahmenbedingungen sei der Aufwand deshalb nicht mehr tragbar. Die Betriebskosten nur zum Erhalt der Kirche betrügen rund 70.000 Euro pro Jahr, der Sanierungsbedarf bewegt sich nach Herrmanns Schätzung „im hohen sechsstelligen Bereich“.

In weitem Teilen sei die Kirche noch im Originalzustand aus dem Jahre 1964 erhalten, als nach zweijähriger Bauzeit die feierliche Einweihung begangen werden konnte. Lediglich ein Aufzug wurde vor 15 Jahren nachträglich eingebaut, damit der Gemeindesaal im ersten Obergeschoss auch für Gemeindemitglieder erreichbar ist, die nicht mehr so gut zu Fuß sind.

Gerade bei den älteren Gemeindemitgliedern gibt es viel Wehmut

Kirchenschließungen und Abrisse geschehen selten einfach folgenlos. Mit Blick auf Pfingsten 2021 gibt es jetzt schon viel Wehmut, besonders bei älteren Gemeindemitgliedern. „Wer im Flora-Viertel aufgewachsen ist und hier sein ganzes Leben verbracht hat, ist besonders traurig“, weiß der Pfarrer. Wichtige Eckdaten des eigenen Lebens – Hochzeit, Taufen, Trauerfeiern – verbinden sich mit der Versöhnungskirche. Mit einem Erinnerungsbuch will die Gemeinde diese Gefühle aufgreifen und ihnen einen Ort geben – wenn es auch nur ein Ort zwischen zwei Buchdeckeln ist.

Erbaut im nüchternen Stil der 1960er Jahre

Wegen der wachsenden Größe der evangelischen Kirchengemeinde Rüttenscheid entstand schon in den 1950er Jahren der Gedanke eines Neubaus. Nach langen Grundstücksverhandlungen konnte am 2. September 1962 an der Alfredstraße der Grundstein für die Versöhnungskirche gelegt werden.

Am 3. Mai 1964 wurde die neue Kirche eingeweiht, die im typisch nüchternen und als modern empfundenen Stil der 1960er Jahre erbaut wurde. Architekten und Architekturhistorikern gilt dieser Stil als durchaus wertvoll, Betrachter ohne Vorwissen sehen das meist anders.

Pläne für die Zeit danach gibt es bereits, sie verbinden sich mit der Adolphi-Stiftung, einer Tochtergesellschaft der evangelischen Kirche in Essen, die Trägerin verschiedener Senioren-Einrichtungen ist. Einige Kirchen in Essen konnten zu diesem Zweck zumindest baulich erhalten bleiben, etwa das besonders gelungene Paulus-Quartier an der Steeler Straße. „In unserem Fall ist das leider nicht möglich“, weiß Pfarrer Herrmann. Für eine Entkernung und Neunutzung der Kirchenhülle sei die Bausubstanz nicht geeignet.

Pfarrer Jörg Herrmann, hier mit Presbyterin Helga Siemens-Weibring, vor einigen Jahren anlässlich der Fusionsgespräche in der Reformationskirche.
Pfarrer Jörg Herrmann, hier mit Presbyterin Helga Siemens-Weibring, vor einigen Jahren anlässlich der Fusionsgespräche in der Reformationskirche. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Adolphi-Stiftung will ab 2023 eine Nachnutzung als Seniorenzentrum angehen

Die Adophi-Stiftung teilt auf Anfrage mit, schnelle Lösungen seien in Rüttenscheid nicht zu erwarten, frühestens 2023 werde man auf dem Grundstück an der Alfredstraße eine Nachnutzung angehen. Jörg Herrmann zufolge sei „Seniorenwohnen mit Service“ geplant, es gebe auch bereits erste Architektur-Ideen.

Nicht nur die eigentliche Kirche, auch der Glockenturm müssten dafür allerdings abgerissen werden. Erhalten bleiben soll die gemeindeeigene Kita im so genannten Oberlin-Gebäude an der Lotharstraße, ursprünglich die Keimzelle der gesamten Gemeinde. Und auch Räumlichkeiten für kleinere kirchliche Zeremonien soll es im Neubau der Adophi-Stiftung geben.

Das Kreuz über Rüttenscheid spielte bei der Gestaltung möglicher Neubauten eine Rolle

Immerhin: Bei den Gestaltungsdiskussionen spielte die Symbolkraft des jetzigen christlichen Kreuzes über Rüttenscheid eine Rolle. „Das Kreuz soll auf dem neuen Gebäude platziert werden“, sagt Herrmann. Man könne es nicht so hoch anbringen, und wahrscheinlich werde auch nicht das Original Verwendung finden können, sondern etwas kleineres.

Das mächtige Kreuz an der Alfredstraße wird also gewissermaßen tiefer gehängt, was traurig, aber auch unfreiwillig symbolträchtig ist; und bei Licht besehen durchaus in die Zeit passt.

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