Essen. Deutscher Tanzpreis: Spitzenauszeichnung geht erstmals an einen Künstler der freien Tanzszene. Auch Hip-Hop ist bei der Essener Gala ein Novum.
Tränen der Rührung konnte und wollte er nicht unterdrücken, als ihm im Essener Aalto-Theater der „Deutsche Tanzpreis 2020“ überreicht wurde. Dabei war es beileibe nicht die erste Ehrung dieser Art, die Raimund Hoghe im Laufe seiner langen Karriere zuteil wurde.
Ein kleiner Mann mit einem Buckel, der Schwäche zu Stärke transformiert
Auch interessant
Mit Hoghe kam nicht nur zum ersten Mal ein Vertreter der freien Tanzszene in den Genuss der Spitzenauszeichnung des „Dachverbands Tanz“, es verblüfft immer wieder, mit welch unerschütterlicher Beharrlichkeit der 71-jährige Künstler als Choreograf, Tänzer, Buchautor und Filmregisseur einer Ästhetik treu bleibt, die allen gängigen Vorstellungen, Praktiken oder gar Moden der Tanzszene widerspricht. Empathie für alle vergessenen und benachteiligten Menschen, Flüchtlingen wie Behinderten, durchzieht sein gesamtes Schaffen. Ein kleiner Mann mit einem Buckel, ein Mensch, der Schwäche zur Stärke transformiert und allem virtuosen und lauten Glanz aus dem Weg geht.
Impulse für den Tanz
Die Verleihung des Deutschen Tanzpreises konnte in diesem Jahr nur unter den besonderen Bedingungen der Corona-Schutzverordnung stattfinden. Weil nur wenige Gäste live dabei sein konnten, wurde die Gala erstmals auch online übertragen.
Neben Raimund Hoghe wurden auch der Hip-Hop-Tänzer, Choreograf und politisch aktive Künstler Raphael Hillebrand sowie die Hamburger Choreografin Antje Pfundtner für herausragende Impulse im Tanz geehrt. Eine weitere, jeweils mit 5.000 Euro dotierte Auszeichnung erhielt der Stuttgarter Kammertänzer Friedemann Vogel als bester Interpret.
Ausschnitte aus seiner letzten Kreation „Canzone per Ornella“, mit denen der zweistündige Festakt zu Ende ging, hinterließen denn auch besonders nachhaltige Eindrücke. So, wenn die großgewachsene Ornella Balestra, die einstige Ballerina des Béjart-Balletts, dem kleinen, hilflos wirkenden, bewegungslos verharrenden Mann die Arme wie eine Marionette führt und eine einfühlsame, stille Choreografie von bestrickender Intimität und Zärtlichkeit erstehen lässt.
Wie sehr die Ballettomanen aus allen Ländern Hoghe gerade wegen seiner individuellen, von keinen Trends und Moden beeinflussten Ästhetik schätzen, das stellte nicht nur die Laudatorin Prof. Katja Schneider von der Musikhochschule Frankfurt/Main eindringlich dar, sondern auch Tänzer und Compagnien aus diversen Hochburgen des Balletts mit eindrucksvollen Beiträgen.
Friedemann Vogel begeistert mit dem „Bolero“
Dazu gehörten das Nationale Ballet Amsterdam, das Aalto Ballet mit einer anmutigen Choreografie zu Gilbert Bécauds „Nathalie“ und die berühmte Lucia Lacarra mit Matthew Golding in einer traumhaft zarten Studie zu Klängen von Vivaldi. Das Opera Ballet Vlaanderen schaffte mit der Klage aus Purcells „Dido and Aeneas“ einen einfühlsamen Übergang zum finalen Höhepunkt mit Hoghes „Canzone per Ornella“. Nicht zu vergessen das Stuttgarter Ballett mit Maurice Béjarts legendärer Choreografie von Ravels „Bolero“. Als Solist begeisterte niemand Geringerer als Friedemann Vogel, einer von drei Künstlern, die mit Ehrungen bedacht wurden.
Abgesehen von Friedemann Vogel, einer Art Super-Star des Balletts, hat man auch hier Künstler bedacht, die unkonventionelle Wege beschreiten und, wie Hoghe, gegen die „Risse“ der Zeit mit ihren Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten antanzen wollen.
Preisträger wurden mit Video-Einspielungen vorgestellt
So der Hip-Hop-Tänzer Raphael Hillebrand, der erste nichtweiße Preisträger, und Antje Pfundtner mit ihrer „Gesellschaft“. Moderiert wurde der Abend charmant und sachkundig von der WDR-Redakteurin Siham El-Maimouni. Video-Einblendungen stellten die Verdienste der Geehrten angemessen zur Geltung.