Essen. Bundestagsvize Kubicki kritisiert mit schrägen Vergleichen das Essener Melde-Portal für Corona-Verstöße. Dabei ist die Sorge dahinter ehrenwert.

Die Corona-Krise und die sozialen Medien – das ist eine Kombination, bei der die Übertreibung und manchmal auch das Ausflippen noch mehr zur realen Gefahr werden als dies ohnehin schon bei Facebook und Twitter der Fall ist. Die rüde Attacke von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) gegen die Stadt Essen hat aber selbst unter diesen Vorzeichen eine andere Qualität. Ein Melde-Portal der Stadt Essen über Corona-Verstöße mehrfach in Zusammenhang zu bringen mit totalitären Diktaturen ist Unsinn und Ausdruck der übergroßen Nervosität, ja der Hysterie, die in diesen Tagen wieder stark spürbar ist.

Bürger und Staatsmacht im Spannungsverhältnis - da hat Kubicki recht

Dabei ist die dahinterstehende Sorge ja aller Ehren wert. Das Verhältnis des freien Bürgers zur Staatsmacht unterliegt in der Demokratie einem natürlichen Spannungsverhältnis. Und zweifellos ist jedes Beschneiden persönlicher Freiheiten begründungspflichtig und muss immer verhältnismäßig sein.

Die Leichtigkeit, mit der mancher in der Corona-Krise eherne Rechte abräumen will, muss gerade liberale Köpfe irritieren. Dennoch hat der Staat – verstanden als Gemeinschaft aller Bürger – das Recht und die Pflicht, eine gewisse Ordnung in die Vielfalt zu bringen und die geltenden Regeln durchzusetzen – gerade auch die, die dem Gesundheitsschutz dienen. Bürger, die dabei mithelfen wollen, kann man schwer daran hindern. Wer ein Gewaltverbrechen, eine Umweltsauerei oder eine Unfallflucht beobachtet, ist ja auch aufgefordert, den Behörden sein Wissen mitzuteilen – je detaillierter, desto besser.

Bundestagsvizepräsident und FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki hat sich auf die Stadt Essen eingeschossen.
Bundestagsvizepräsident und FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki hat sich auf die Stadt Essen eingeschossen. © dpa | Frank Molter

Maß und Mitte dürfen auch beim Thema Corona nicht verloren gehen

Nun gibt es sicherlich Übereifrige, die schon eine versehentlich verrutschte Maske für anzeigewürdig halten. Wie überhaupt die Gefahr groß ist, dass bei der herrschenden, manchmal hysterischen Corona-Angst Maß und Mitte verloren gehen.

Es ist deshalb Aufgabe der Stadt, sehr genau zu prüfen, was an Informationen ins Rathaus gesendet wird um nicht gleich beim kleinsten Rauchzeichen die Kavallerie loszuschicken. Im Moment scheint das schon deshalb gut zu gelingen, weil die Zahl der Meldungen sehr gering ist. Für ein vergiftetes Klima der Denunziation spricht das nicht. Aber man muss das sicherlich beobachten.

Ein zweischneidiges Schwert – da hat der Bundestagsvizepräsident durchaus recht – ist das Hochladen und Weiterleiten von Fotos, auf denen Menschen zu erkennen sind. Gerichte sind da sehr sensibel, wie gerade Medien zu ihrem Leidwesen wissen. Oberbürgermeister Thomas Kufen hat am Mittwoch eingeräumt, dass man diese Praxis und auch die Möglichkeit, Informationen anonym zu melden, überprüfen will. Es mag notwendige Ausnahmen im Bereich der Schwerkriminalität geben, wenn das Leben eines Informanten auf dem Spiel steht, aber ansonsten ist Anonymität Mist. Wer was zu sagen hat, soll sein Visier öffnen, auch das ist eine Bürgertugend.

Politisierung der Corona-Schutzmaßnahmen ist das eigentliche Problem

Nichts zu tun hat all dies mit der politisch motivierten Bespitzelung, wie sie in totalitär und antiliberal organisierten Staaten wie zum Beispiel China, der früheren DDR oder auch im Nationalsozialismus üblich ist oder war. Das Verweigern der Maske etwa mag mancher als politisches Signal auffassen – sei es bei sich, sei es bei anderen. Bei Licht besehen ist dieses Politisieren aber schon Teil des Problems.

In Wahrheit bewegen wir uns hier lediglich im Bereich der simplen Regeln des Zusammenlebens. Wir unterlassen Handlungen und willigen in gewisse Einschränkungen ein, um andere zu schützen. Wer dies im relevanten Maß verweigert, muss eben auch irgendwann Konsequenzen spüren.

Die Diskussion um das richtige Vorgehen darf nicht aufhören

Kubicki sitzt also bei seinen schrägen Vergleichen einem Trugschluss auf, Debatten werden so eher erschwert. Dass er das nicht begreifen will oder kann, ist beinahe tragisch. Denn keineswegs geht es darum, alles kritiklos abzunicken, was der Staat uns derzeit abfordert. Weder muss man die getroffenen Corona-Maßnahmen gutheißen, noch ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Im Gegenteil: Die Diskussion ist wichtig, und sie darf niemals aufhören.