Essen. „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ im Schauspiel Essen: Für Regisseur Karsten Dahlem funktioniert der furiose Beziehungskampf auch mit Abstand.

Vom Beziehungs-Nahkampf zum Schlagabtausch auf Distanz. Wenn Karsten Dahlem mit Edward Albees Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ zwei der berühmtesten Ehekrieger der Nachkriegsliteratur ab Freitag im Grillo-Theater aufeinander loslässt, dann werden sie zwangsläufig vor unsichtbare Wände laufen. Denn ein Virus umstellt die beiden in diesen Tagen genau so wie ihre über Jahre aufgetürmten Aggressionen. Doch trotz Corona hat der Regisseur bislang nicht das Gefühl, dass die Pandemie dieser Mutter aller szenischen Eheschlachten die Verve genommen hätte. Im Gegenteil.

Regisseur Karsten Dahlem.
Regisseur Karsten Dahlem. © FUNKE Foto Services | Carsten Klein

Statt blindlings aufeinander loszugehen, sei es nun eben erforderlich, andere Lösungen für diese hochexplosiven Beziehungs-Gefechte zu finden, sagt Dahlem. Und wie so oft, wenn außergewöhnliche Situationen eine andere Herangehensweise erfordern, würden ganz neue Ideen und Energien freigesetzt. Der Umgang mit dem Abstandsgebot habe sich während des Probenprozesses beispielsweise so eingespielt, „dass auf der Bühne wahre Choreografien entstehen“, berichtet Dahlem.

Sex, Suff und Tabubrüche: Seit Albees Broadwayklassiker 1962 das Bühnenlicht erblickte, hat dieser alkoholgeschwängerte Schlagabtausch zwischen dem frustrierten Geschichts-Professor George und seiner nicht minder zynisch-verbitterten Frau Martha Generationen von Mimen zu Höchstleistungen angetrieben. Dass dieses extreme Krisen-Couple echtes Schauspielfutter bietet, das ist unbestritten. Elizabeth Taylor und Richard Burton haben dem Alb(Traumpaar) in der Verfilmung von Mike Nichols 1966 ein prägendes Gesicht gegeben. Doch die großen Vorbilder schrecken Dahlem nicht. Der 45-jährige Theatermacher, der in Essen zuletzt „Peer Gynt“ auf eine packende Selbstfindungsreise geschickt hat und dessen „Werther“ das Publikum mit einer selten erreichten Gefühlswucht getroffen hat, interessiert vielmehr die Chance des Wiedererkennens und die Wunden, die man mit Worten schlagen kann. „Viele Dinge, die Martha und George verhandeln, kennt man doch auch aus seinem eigenen Umfeld“, sagt Dahlem, „Man vergisst, was man am anderen einmal toll gefunden hat.“ Albees bitterer Ehekrieg sei deshalb von zeitloser Gültigkeit. „Er zeigt, wie weit Menschen gehen können, um sich zu verletzen.“

Extreme Gefühle haben keine Altersgrenze

Unerfüllte Träume und verlorene Illusionen bereiten dem bühnenreifen Showdown mit seinen messerscharfen Dialogen und pointengesättigten Sottisen dabei den Boden: Und während Martha und George ihr Lebenslügengebilde mit der rhetorischen Streitaxt schonungslos klein hacken, gerät auch das dazu geladene jüngere Paar, Nachwuchs-Biologiedozent Nick und seine „Süße“, in den Strudel dieses selbstzerstörerischen Spiels. Karsten Dahlem hat vor allem die Rolle der „Süßen“ aufgewertet und gestärkt. „Zu nah am Frauenbild der 1960er“, lautet sein Urteil.

Tickets und Termine

„Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ hat am 9. Oktober, 19.30 Uhr im Grillo-Theater Premiere. Weitere Termine: 21., 23., 24. Oktober. 18., 19. , 20. Dezember.

Karten gibt es telefonisch unter 0201-8122-200 und per E-Mail unter tickets@theater-essen.de

Neben Ines Krug und Jan Pröhl als Martha und George erlebt man auf der Grillo-Bühne Lene Dax als Süße und Alexey Ekimov als Nick. Beim Live-Gesang alternieren Finn Brüggemann und Miguel Machulla.

Auch der gemeinsame Sohn, der in der Fantasie von Martha und George existiert, bekommt bei Dahlem eine Erscheinung. Dazu bringt der Regisseur, der in Essen bislang vor allem als Experte für jugendgerecht aufbereitete Dramen galt, auch Musik ins Spiel, live auf die Bühne gebracht von Hajo Wiesemann. Jugendtheater oder Erwachsenentheater – für ihn mache das bei der Arbeit keinen Unterschied, versichert Dahlem. Extreme Gefühle, tiefsitzende Enttäuschungen und angestaute Aggressionen haben für ihn ohnehin keine Altersgrenze. „Ich würde mir wünschen, dass auch ein jüngeres Publikum sich das anschaut.“

Ein Blick in die Ehehölle – zwischen Hoffnung und Tristesse

Ob der Blick in die Ehehölle am Ende noch so etwas wie Hoffnung zulässt oder nur bodenlose Tristesse freigibt, will der Theatermacher offen halten. Corona jedenfalls wird den Ausgang nicht beeinflussen – wohl aber die Spieldauer. Weil man im Theater derzeit deutlich unter zwei Stunden spielen will, hat auch Dahlem den Eskalationsprozess ein wenig beschleunigt. Die Straffung habe dem Stück nicht allzu sehr geschadet, findet der 45-Jährige. Im Laufe des Abends wiederhole sich doch manches. „Wir haben uns auf die Stellen konzentriert, wo man richtig in die Beziehung und in die Figuren reingucken kann“, sagt Dahlem. Was man sehen wird, sind zwei, die nicht mit, aber auch nicht ohne einander können. Und vielleicht wird ihr Kampf am Ende auch unser Erschrecken sein.

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