Essen. Vor fünf Jahren entstand in Altenessen eine Männerrunde: Seither tauschen sich dort Flüchtlinge und Ur-Essener aus – von Asylrecht bis Kopftuch.

Sie alle wohnen in Essen; in Dellwig, Altendorf oder im Nordviertel: Die einen sind im Ruhrgebiet aufgewachsen, die anderen waren bis vor ein paar Jahren in Afghanistan, Guinea oder Syrien zu Hause. Nun kommen die Männer allwöchentlich im Treffpunkt Süd in Altenessen zusammen. Für die Flüchtlinge ist es oft die erste Gelegenheit, Deutsch zu sprechen, Ur-Essener zu treffen.

Zu den ersten deutschen Vokabeln gehörte „Ruhe bitte“

So war es bei Mohammad R., der sich aus seiner Anfangszeit nur an einen Kontakt zu Deutschen erinnert. „Meine Nachbarn klopften manchmal und sagten ,Ruhe bitte’“. Mohammad ist ein schüchterner Mann, der mit leiser Stimme erzählt. Er hat zwei Kinder, die vier und sieben Jahre alt sind – und vermutlich nicht immer so still wie ihr Vater. „Ruhe bitte“ gehörte zu den ersten Vokabeln, die die Familie gelernt hat.

„Etwas Vernünftiges tun“, möchte Manfred Zimmermann (l.), der ehrenamtlich Flüchtlingen hilft. Mohammad (M.) und Mojtaba aus Afghanistan nutzen die Runde, um Kontakte zu Deutschen zu knüpfen und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern.
„Etwas Vernünftiges tun“, möchte Manfred Zimmermann (l.), der ehrenamtlich Flüchtlingen hilft. Mohammad (M.) und Mojtaba aus Afghanistan nutzen die Runde, um Kontakte zu Deutschen zu knüpfen und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Mohammad ist Afghane, aber im Iran aufgewachsen. Wie viele seiner Landsleute, die dort als Flüchtlinge leben, ist er mit der Verachtung der Einheimischen groß geworden. In Deutschland habe er indes gute Erfahrungen gemacht. „Und ich hatte immer gehört, die Deutschen sind Nazis.“ Keine Nazis, bloß ein nörgelnder Nachbar – das reicht beinahe schon für ein positives Gesamtbild.

Eine Gebrauchsanweisung für Deutschland

Seit vier Jahren lernt Mohammad noch mehr über Land und Leute: So lange kommt der 35-Jährige zu der Männerrunde im Treffpunkt Süd. Hier hat er sein Deutsch verbessert, seine Schüchternheit abgelegt. Er hat inzwischen die schwere B2-Sprachprüfung bestanden, macht eine IT-Umschulung. Wenn er nicht zu müde ist, kommt er weiter in die Männergruppe. Hier stellt er Fragen zu seiner neuen Heimat, die Wikipedia nicht beantwortet. Hier bekommt er eine Gebrauchsanweisung für Deutschland.

Als solche ist die Gruppe auch vor fünf Jahren gestartet, wie Achim Gerhard-Kemper berichtet, der von Anfang an dabei war. Im ersten Zeltdorf, das die Stadt damals am Altenbergshof im Nordviertel errichtete, waren viele alleinreisende Männer. Die einen kämpften mit der Einsamkeit, andere mit den Regeln im neuen Land und alle mit der Sprache. „Wir haben uns mit ihnen zusammengesetzt, mit ihnen geredet.“

Es begann ein Gespräch, das bis heute mit wechselnden Teilnehmern fortgesetzt wird. Auf Gerhard-Kempers Liste stehen 60 Namen, im Treffpunkt Süd sitzen an einem Augusttag 15 Männer im Kreis: teils Deutsche, teils „Landlose“, wie sie hier sagen. Einer ist der syrische Kinderarzt Eissa Aljessen. Auf der Flucht vor dem Krieg hat der 54-Jährige neben der Heimat auch seinen Beruf verloren. „Für die fachsprachliche Prüfung musste ich nicht nur Deutsch können, sondern auch Latein und medizinische Fachbegriffe: Ich habe drei Sprachen gelernt.“ Nun fehlt noch eine praktische Prüfung, dann könnte er praktizieren.

Sie reden über Feste, Gebräuche und Gleichberechtigung

Nach fünf Jahren in Deutschland ist Aljessen ein Musterbeispiel gelungener Integration; seine drei Kinder (16, 18, 20) haben das Abitur oder sind auf dem Weg dahin. Trotzdem sagt er: „Es ist schwierig, mit Deutschen in Kontakt zu kommen.“ Kontakt, der über Einkäufe, Elternabende und Behördengänge hinausgeht. Aljessen besucht viele Gruppen, sucht das Gespräch – und findet es immer wieder in Altenessen.

„Wir lernen viel über die Kultur der anderen, über Feste und Gebräuche“, sagt Gerhard-Kemper. „Wir akzeptieren, dass wir unterschiedlich sind, aber wir fragen nach: ,Warum tragen Eure Frauen Kopftuch?’“ Gleichberechtigung, Erziehung, Gewalt in der Familie sind Themen, die sie immer wieder diskutieren. Auch mit Hilfe des Jugendamt-Trainings „Daddy Cool“, das regelmäßig in der Männerrunde zu Gast ist. „Wir arbeiten da richtig miteinander, und wir lachen viel“, sagt der 70-Jährige.

Die Begrüßung sei kalt, aber: „Die Deutschen sind Engel“

Für viele der Flüchtlinge sind sie zu Lotsen geworden, haben sie zu Ämtern begleitet, mit ihnen Formulare ausgefüllt, sich ins Asylrecht eingearbeitet oder Deutschkurse gegeben wie Manfred Zimmermann (65): „Ich bin Rentner und wollte etwas Vernünftiges machen. Mit jemandem reden, ihm ganz konkret helfen – das macht mir Spaß.“

Jede investierte Stunde kann den Wendepunkt in einem Leben bedeuten, zu einen sicheren Aufenthaltsstatus führen, zu einem Job, zum Ankommen. So erzählt Mojtaba aus Afghanistan, dass er die Deutschen anfangs als ernst und kalt erlebte, weil sie sich – lange vor Corona – so distanziert begrüßt, Umarmungen gemieden hätten. Aber: Er habe hier so viel Gutes erlebt, versichert der 30-Jährige: „Die Deutschen sind Engel.“