Essen. Die Kriminalitätsrate in Essen ist historisch niedrig. Das gilt auch für Straftaten von Zuwanderern. Dennoch gibt es in der Stadt Schieflagen.

  • Einige schwere Delikte haben in den vergangenen fünf Jahren in Essen in einer ständig befeuerten Diskussion um Zuwanderung und Kriminalität nicht nur für Schlagzeilen gesorgt, sondern im Verbund mit gezielten Falschinformationen gleichzeitig für fremdenfeindliche Flächenbrände in den sozialen Netzwerken und eine zunehmende Verbrechensfurcht in der Bevölkerung gesorgt.
  • Die Essener Polizei hat damit keinen leichten Stand mehr, wenn sie betont, dass das schlechte subjektive Sicherheitsgefühl in der Diskussion um Zuwanderung und Kriminalität nicht der objektiv guten Sicherheitslage entspricht. Die Deliktzahlen in Essen sind auf dem niedrigsten Stand seit 29 Jahren.
  • Es gibt keinen Beleg für die landläufige Propaganda, wonach die Kriminalitätsbelastung der Essener Bevölkerung durch die starke Zuwanderung im Jahr 2016 - also einem Jahr nach dem Beginn der Flüchtlingskrise - rasant und merklich zugenommen hätte.

Gemeinsam fliehen die beiden Männer vor den Schrecken des Bürgerkriegs nach Essen. Doch dann ermordet der 30-jährige Syrer seinen sieben Jahre jüngeren Landsmann im Dezember 2016 in Holsterhausen - aus Habgier. Am 31. Mai 2018 will eine syrische Familie einen 19-Jährigen auf einem Hinterhof in Steele umbringen. Nach diesem versuchten „Ehrenmord“ wegen eines angeblichen Ehebruchs wandern 13 Beschuldigte in Untersuchungshaft.

Ende April diesen Jahres kommt es im Hörsterfeld zu einem Gewaltausbruch zwischen Syrern und Libanesen auf offener Straße. Der Zwischenfall zieht weitere Tumulte mit Verletzten und mehrere SEK-Einsätze nach sich. Am 5. Mai attackiert ein algerischer Asylbewerber Mitarbeiter der Flüchtlings-Unterkunft am Overhammshof mit einem Messer, am 20. Juni sticht ein Syrer in der Straßenbahnlinie 109 mehrfach auf einen deutschen Fahrgast (27) ein und verletzt den Mann schwer. Sein Motiv: unbekannt.

Kriminalität und Zuwanderung in Essen: Fremdenfeindliche Flächenbrände in den sozialen Netzwerken

Dies sind einige „beispielhafte schwere Delikte“, so die Essener Polizei, die in den vergangenen fünf Jahren einer ständig befeuerten Diskussion um ein adäquates Maß an Zuwanderung nicht nur für Schlagzeilen gesorgt haben, sondern im Verbund mit gezielten Falschinformationen gleichzeitig für fremdenfeindliche Flächenbrände in den sozialen Netzwerken und eine zunehmende Verbrechensfurcht in der Bevölkerung. „Diese Delikte erzeugen eine hohe Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum und tragen zu einer großen Verunsicherung bei“, ist Essens Polizeipräsident Frank Richter überzeugt.Der versuchte Ehrenmord an der Steeler Straße sorgte im Mai 2018 für einen Großeinsatz der Polizei an der Steeler Straße und später für eine Reihe von Festnahmen wie hier im Juli des Jahres.Lars Heidrich

Deshalb hat die Staatsmacht von der Büscherstraße schon länger keinen leichten Stand mehr, wenn sie fast mantrahaft betont, dass das weit verbreitete schlechte subjektive Sicherheitsgefühl nicht der objektiv guten Sicherheitslage entspricht, obwohl die Deliktszahlen in Essen auf breiter Front und den niedrigsten Stand seit 29 Jahren gefallen sind - was auch für die sogenannte Ausländerkriminalität gilt.

Kriminalität und Zuwanderung in Essen: Die Zahl der Tatverdächtigen geht in allen Bevölkerungsgruppen zurück

Zur Wahrheit gehört aber auch: Über 38 Prozent aller im vergangenen Jahr bekannt gewordenen Straftäter waren nichtdeutsche Tatverdächtige, obwohl sie weniger als ein Fünftel der Essener Bevölkerung stellen. Der Anteil der Zuwanderer, damit meint die Statistik Asylbewerber, Asylberechtigte, Menschen, die geduldet sind, und Kontingentflüchtlinge, an allen mutmaßlichen Straftätern beträgt in Essen für die vergangenen fünf Jahre im Schnitt etwa 13 Prozent, mehr als 80 Prozent davon sind Männer, so die Polizei. Dennoch: Seit 2017 gehen wie in allen anderen Schichten auch bei diesen Gruppen die Vergehen in absoluten Zahlen zurück.

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Fünf Jahre der Wir-schaffen-das-oder-doch-nicht-Debatte nach der Botschaft der Kanzlerin am 31. August 2015 sind deshalb einmal mehr Anlass für einen genaueren Blick auf die Lage in Essen und auf die Daten der Kriminalstatistik, deren Aussagekraft zunehmend angezweifelt wird, weil sie angeblich geschönt sei. Tatsächlich kann sie nur einen Teil der Straftaten ohne Dunkelfeld beleuchten. Dennoch sind die Zahlenwerke die Grundlage polizeilichen Handelns vor Ort. Für Hetze und Hass, die sich spätestens seit den Ausschreitungen in der Silvesternacht von Köln immer wieder Bahn brechen, taugen sie allerdings nicht.

Kriminalität und Zuwanderung in Essen: Die Polizei übernimmt mangels Alternativen die Erstregistrierung

„Diese sogenannte ,Flüchtlingskrise’ stellte auch die Polizei Essen vor eine neue sicherheitspolitische Herausforderung“, sagt Polizeipräsident Frank Richter rückblickend. Geflüchtete, zum Teil minderjährig, ohne Pass und mit geringen Englischkenntnissen erscheinen mit einem Mal regelmäßig auf den Polizeiwachen.

Kriminalität und Zuwanderung in Essen: Auch in den Zeltdörfern kommt es häufiger zu Konflikten. Über 20 Einsätze in Flüchtlingsunterkünften zählte die Behörde im Jahr 2016.
Kriminalität und Zuwanderung in Essen: Auch in den Zeltdörfern kommt es häufiger zu Konflikten. Über 20 Einsätze in Flüchtlingsunterkünften zählte die Behörde im Jahr 2016. © FUNKE Foto Services | Ulrich von Born

Mangels Alternativen übernimmt das Präsidium zeitweise die Erstregistrierung, das heißt: Personalien und Lichtbilder werden aufgenommen, Fingerabdrücke registriert, erinnert sich Richter, seit April jenen Jahres neuer Chef der der Rüttenscheider Behörde. Ausgestattet mit mehrsprachigen Anlaufzetteln und Tickets für den öffentlichen Nahverkehr werden die Menschen an die Unterkünfte zur Erstaufnahme verwiesen.

Kriminalität und Zuwanderung in Essen: In den Unterkünften brechen sich die ersten Konflikte Bahn

Dort kommt es zu den ersten verbalen, aber auch körperlichen Konflikten. Zwischen ethnischen Gruppen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Kulturen, die auf engstem Raum miteinander auskommen mussten, brennt schnell die Luft. Über 20 Einsätze fährt die Polizei in 2016, um eine ausufernde Situation in einem der Essener Flüchtlingsheime zu beruhigen, in diesem Jahr sind es bislang gerade einmal zwei.

Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch nach den Zuwachsraten in 2016 bei der Ausländerkriminalität in der Stadt ab: Die Zahl der Tatverdächtigen ohne deutschen Pass ist in jenen Monaten tatsächlich stärker gestiegen als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Rund 14 Prozent Nichtdeutsche stellten fast 41 Prozent aller mutmaßlichen Straftäter. Das ist ein Zuwachs von knapp drei Prozent gegenüber 2015. Und etwa jeder dritte von ihnen war ein Asylbewerber. Doch ein Blick auf die Statistik zeigt aus Sicht der Polizei auch: Es gibt keinen Beleg für die landläufige Propaganda, wonach die Kriminalitätsbelastung der Bevölkerung durch den starken Zuzug von Geflüchteten in jenem Jahr rasant und merklich zugenommen hätte.

Kriminalität und Zuwanderung in Essen: Rund 2000 Asylbewerber begingen Schwarzfahrten und Ladendiebstähle

Denn rund 2000 Asylbewerber, die vor vier Jahren erstmals getrennt von der üblichen Ausländerkriminalität erfasst wurden, begingen Schwarzfahrten mit Bus und Bahn sowie Ladendiebstähle. Dazu kommen knapp Straftaten gegen Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetze, die exklusiv nur von einer Gruppe von 200 Tatverdächtigen begangen wurde. Die Flüchtlingswelle, so Kripo-Experten, hat so jedenfalls keinen signifikanten Anstieg einer für die Öffentlichkeit wahrnehmbaren Kriminalität angespült, auch wenn die öffentliche Meinung vielfach eine andere sein mag.

An diesem Befund, so hieß es, ändere auch die Zahl der über 400 bekannt gewordenen Körperverletzungen nichts, die nach Ermittlungen der Polizei auf das Konto von Asylbewerbern gehen. Zu diesen Delikten sei es meist in den Unterkünften gekommen, wo viele Flüchtlinge auf engstem Raum zusammen leben, hieß es damals.

Essen: Zuwandererzahl in der Polizeibilanz sinkt auch, wenn sich ihr Aufenthaltsstatus ändert

In 2017 registriert die Polizei einen weiteren Rückgang bei den Nichtdeutschen zugeordneten Delikten. Obwohl der Ausländeranteil binnen zweier Jahre von rund 14 auf 16 Prozent gestiegen ist, sinkt die Zahl der Tatverdächtigen ohne deutschen Pass demgegenüber um 929 auf 10.202. In 2018 sind es 9799, im vergangenen Jahr 8869. Dennoch waren zwischen 37 und 40 Prozent aller von den Beamten im Polizeipräsidium Essen ermittelten mutmaßlichen Straftäter Nichtdeutsche, auf deren Konten insgesamt zwischen 9658 und 8762 Gesetzesverstöße gingen.

Kriminalität und Zuwanderung in Essen: In diesem Haus an der Gemarkenstraße wurde im Dezember 2016 ein von einem Landsmann ermordeter syrischer Flüchtling entdeckt.
Kriminalität und Zuwanderung in Essen: In diesem Haus an der Gemarkenstraße wurde im Dezember 2016 ein von einem Landsmann ermordeter syrischer Flüchtling entdeckt. © KDF-TV & PICTURE

In 2016 waren 31,6 Prozent dieser nichtdeutschen Tatverdächtigen Asylbewerber, in 2017 waren es 25,1 Prozent, 10,7 Prozent vor zwei und rund 8 Prozent im vergangenen Jahr. Einfluss auf diese Entwicklung hat aber nicht nur der Rückgang der Straftaten insgesamt, sondern auch der Umstand, dass weniger Menschen von der Polizei Essen als Zuwanderer geführt werden, weil die Zahl der Neuankömmlinge insgesamt sinkt und sich in vielen Fällen der Aufenthaltsstatus derer verändert hat, die schon länger in Essen leben.

Dass die Zahl der Zuwanderern zugeordneten Rohheitsdelikte vor diesem Hintergrund bis heute in den Bilanzen der Essener Polizei mit über 400 konstant und auch landesweit in Relation zu ihrem Anteil an der Bevölkerung dennoch überdurchschnittlich hoch ist, hat NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) jüngst deutlich kritisiert, aber auch betont: Es bedürfe einer gesellschaftlichen Debatte darüber, „was wir tun können, damit sich dieses Missverhältnis ändert. Da geht es um Strafverfolgung und Druck, aber auch um Integration, Sozialisation, Bildung und Teilhabe. Wer diese Daten aber heranzieht, um gegen Ausländer zu hetzen, wer sie nutzt, um Hass und Vorurteile zu bestärken, sollte sich schämen.“

Die erste Folge der lokalen Flüchtlingsserie lesen Sie hier.

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