Essen. Anwohner des Viehofer Platzes klagen über Drogenhandel auf offener Straße. Die Polizei Essen tritt dem Vorwurf untätig zu sein, vehement entgegen
Die geschäftigen jungen Westafrikaner gehören in der nördlichen Innenstadt seit Jahren zum Alltagsbild. Brigitte Wiener*, eine resolute Anwohnerin, nennt sie – typisch Ruhrpott – kurz „die Schwatten“. An einem Samstagnachmittag im Juli wird sie auf dem Gehweg zufällig Zeugin eines knappen Dialogs zwischen dem „Kleenen“ und einem Junkie. Dieser sagt: „Okay, zwanzig.“ Daraufhin rennt der mutmaßliche Drogendealer in die Gastwirtschaft direkt hinter ihm, um schon nach wenigen Augenblicken zurückzukehren. Der Kunde drückt ihm etwas in die Hand, ganz offensichtlich die vereinbarten 20 Euro. „Dann gibt der Afrikaner ihm den Stoff.“ Rauschgift gegen Geld: ein Drogengeschäft auf offener Straße und am helllichten Tag. „Der Drogenhandel blüht hier“, sagt Wiener und schüttelt den Kopf.
Die Anwohnerin kennt den Sprengel zwischen Rheinischem und Viehofer Platz wie ihre Westentasche. Sie bekommt hautnah zu spüren, dass sich der illegale Verkauf von Heroin und Kokain, Crystal und Gras vom Rheinischen nur ein paar Schritte weiter zum Viehofer Platz verlagert hat – und zwar von dem Tag an, an dem die Polizei drüben die Überwachungskameras scharf gestellt hat. Eine Verdrängung, die selbst die Polizei nicht in Abrede stellt. Brigitte Wiener kennt ihre Pappenheimer. Sie sagt: „Ich kann Dir auf Anhieb sagen, wer hier Dealer und wer Kunde ist.“
Der in den sechziger Jahren errichtete Gebäuderiegel aus Ladenzeile und Hochhaus, damals konzipiert als städtebaulicher Abschluss der Innenstadt, ist heute eine bunte Multikulti-Ecke mit asiatischem Supermarkt, Afro-Friseur, Plattenladen und libanesischem Lebensmittelhändler. Und weil sich die Dealer hier einigermaßen sicher fühlen, zählt die Ecke zwischen U-Bahnhof, Schützenbahn und Viehofer Platz zu den wichtigsten Drogenumschlagplätzen der Stadt. Er ist fest in der Hand von Westafrikanern.
Mittendrin eine Kneipe, die um 14 Uhr öffnet. „Eine Stunde später kommen schon die Halbtoten“, sagt Wiener. So nennt sie die Junkies. Genervte Anwohner schicken sich gegenseitig heimlich aufgenommene Bilder auf ihre Smartphones, die die Straßendealer bei der Arbeit zeigen. „Einer von ihnen ist jeden Tag hier“, sagt Wiener. „Ein anderer verteilt die Jungs mit ein paar Handbewegungen.“
In die Wut der Anwohner über die Drogenszene direkt vor ihrer Haustür mischt sich der Frust über die Ordnungsbehörden. „Wenn du die Polizei anrufst, verweisen sie dich ans Ordnungsamt, rufst du dort an, sagen sie dir, das ist Sache der Polizei“, ärgert sich Wiener. Gerne erinnert sie sich an die Zeit, als die Polizei beinahe täglich zu Razzien ausrückte. Da sei Ruhe gewesen, „aber jetzt geht‘s wieder los mit den Drogen.“
Polizei will Präsenz in der nördlichen Innenstadt wieder erhöhen
Dem Vorwurf, die Polizei schaue dem kriminellen Treiben der Dealer tatenlos zu, weist Polizeisprecherin Judith Herold entschieden zurück. Zwar habe die Polizei coronabedingt andere Prioritäten setzen und die Zahl der Kontrollen zwischenzeitlich verringern müssen, doch bei fortschreitender Normalisierung werde sich auch die Polizeipräsenz wieder erhöhen. „Wir haben unser Auge auf die Szene“, versichert Herold.
Dass der Drogenhandel ein knallhartes und hierarchisch durchorganisiertes Gewerbe ist, ist am Viehofer Platz kaum zu übersehen. Die Straßendealer stammen aus Guinea, einem bitterarmen Land, das als Drehkreuz für den Kokainschmuggel von Kolumbien nach Europa dient. Sie tragen das größte Risiko erwischt zu werden, dafür machen sie im Monat bis zu 12.000 Euro Umsatz.
Dealer haben Drogen-Bubbles im Mund, damit sie sie schnell runterschlucken können
Von einem Verteiler erhalten sie in Kommission täglich für 250 Euro Drogen, sorgfältig verpackt in 30 Kügelchen („Bubbles“) zu je 0,2 Gramm. Die Annahme, der Stoff werde in Kneipen oder Geschäften der Nord-City gebunkert, ringt erfahrenen Drogenfahndern ein mitleidiges Lächeln ab. Meistens diene ein Gebüsch als „Depot“ oder auch schon mal ein Spielplatz. Bevor die Bubbles an den Mann gebracht werden, bewahrt der Dealer sie im Mund auf, zum Beispiel unter der Zunge. „Damit er sie sofort runterschlucken kann, wenn wir ihn schnappen“, sagt ein Zivilfahnder.
Die Straßendealer unterscheiden sich vom Typ her kaum: Es sind junge und oft sogar minderjährige Typen, schlank und groß, gekleidet mit Baseballcaps, Hoodies, Jeans, Turnschuhen. „Früher sind sie weggerannt, wenn die Polizei kam, jetzt hauen sie mit dem E-Scooter ab“, sagt Brigitte Wiener.
Aggressive Straßendealer – „einer ist mit einer Latte auf meinen Mann losgegangen“
Fahnder beschreiben sie als an sich ruhige, unauffällige und völlig verschwiegene Typen, die das Drogengeld nicht etwa hierzulande verprassten, sondern brav an die Familie daheim in Guinea schickten. Bei Razzien würden sie sich mit Händen und Füßen wehren und Beamte sogar verletzen. Auch Brigitte Wiener beschreibt die Dealer als aggressiv und rücksichtslos. „Einer ist mal mit einer Latte auf meinen Mann losgegangen.“
Mit großem Unbehagen beobachtet auch der neue Eigentümer des Hochhauses die Verdrängung der Drogenszene zum Viehofer Platz. Noch vor ein paar Jahren war das zwölf Stockwerke hohe Gebäude an der Ecke Schützenbahn selbst ein Problemfall: mit 60 Prozent Leerstand, verwahrlostem Zustand und prekärer Mieterschaft. Seit dem Besitzerwechsel sind wieder alle 103 Appartements vermietet, größtenteils an Studenten. Der Drogenhandel vor der Haustür stört nun erheblich. „Mieter haben Angst“, heißt es. Und Eltern von interessierten Studenten würden abgeschreckt.
Dass die Essener Polizei die Drogenszene am Viehofer Platz sehr wohl auf dem Schirm hat, zeigt der Blick in die aktuelle Einsatzstatistik. Am vergangenen Wochenende seien Drogenfahnder mit Unterstützung der Einsatzhundertschaft auch gegen Dealer am Viehofer Platz vorgegangen, so die Polizeisprecherin. Die Bilanz für die Innenstadt: 17 Strafanzeigen und größere Mengen an beschlagnahmtem Rauschgift. Herold: „Wir haben längst wieder angefangen.“
* Name geändert