Essen. Sie sind Pfleger haben aber bisher Fieber in Fahrenheit gemessen oder Spritzen aus Glas verwendet: In Essen ergänzen Flüchtlinge ihre Ausbildung.
Die Hoffnung war groß, die Enttäuschungen mitunter noch größer: Die vielen Flüchtlinge, die ab 2015 nach Deutschland kamen, könnten doch dem Mangel an Alten- und Krankenpflegern abhelfen, so eine vielbeklatschte Idee. In der Praxis sollte dann mancher scheitern, weil ihm Vorbildung und Deutschkenntnisse fehlten. Andere ärgerten sich, dass ihre in der Heimat erworbenen Abschlüsse hier nicht zählten. Nach dem holprigen Start gibt es heute Angebote, die Menschen und Markt zusammenbringen.
Im Unterricht sitzen Pflegekräfte aus Syrien oder dem Irak, Bosnien oder Brasilien
„Ich sehe eine Chance, medizinisch hervorragend ausgebildete Kräfte in unsere Pflege zu integrieren“, sagt etwa Benjamin Hübbertz–Ivartnik, der die Krankenpflegeschule am Bildungsinstitut im Gesundheitswesen (BIG) in Essen leitet. Hier hat im Mai ein sogenannter Anpassungslehrgang begonnen: Die 22 Teilnehmer haben bereits eine pflegerische Ausbildung, die aber hierzulande nicht als völlig gleichwertig anerkannt wird. In einem Jahr schließen sie die Lücken in Theorie und Praxis und können dann als examinierte Gesundheits- und Krankenpflegekräfte arbeiten.
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Die Teilnehmer stammen aus Kasachstan, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Brasilien, Iran, Irak, Palästina. Und aus Syrien wie Ahmad Qitan, der 2015 flüchtete. Aus Angst vor dem blutigen Konflikt im Land, der längst an seinem Arbeitsplatz angekommen war: „Ich habe täglich Kriegsverletzte gesehen.“ Qitan ist gelernter Krankenpfleger, arbeitete acht Jahre lang als OP-Assistent.
Er ließ nicht nur den Krieg, sondern auch seine Familie zurück
Als er sich zu Fuß auf den Weg nach Deutschland machte, ließ er nicht nur den Krieg, sondern auch seine Frau und die beiden Kinder (heute 5, 7) zurück; 2017 konnte er sie nachholen. Da hatte er sich bereits im Ruhrgebiet niedergelassen, weil hier zwei seiner Brüder lebten.
„Für mich ist es wichtig, zu arbeiten und nicht zu Hause zu sitzen“, sagt der 37-Jährige. Darum besuchte er sofort Deutsch- und Integrationskurse, ließ sich von seiner Frau seine Zeugnisse schicken und diese hier übersetzen und beglaubigen. In der Zwischenzeit arbeitete er bei einem ambulanten Pflegedienst, auf Helfer-Niveau. Lange wartete er auf den Bescheid der Bezirksregierung in Düsseldorf, der ernüchternd ausfällt: „Ich muss mehr als 1000 Stunden Theorie und Praxis nachholen.“
Andernorts sind Krankenpfleger die rechte Hand des Arztes
Qitan hat Glück: Der Chef des Pflegedienstes hilft ihm, den Anpassungslehrgang im BIG zu finden. Er behält eine 80-Prozent-Stelle, die mit dem Blockunterricht vereinbar ist. Hier lernt der 37-Jährige nun vor allem Pflegetätigkeiten; in Syrien sei sein Beruf viel medizinischer ausgerichtet gewesen: Selbstverständlich habe er gelernt, Blutdruck zu messen und Insulin zu spritzen, aber Stützstrümpfe musste er dort keinem Patienten anziehen.
„In vielen Ländern wird so etwas von angelernten Helfern gemacht, während die Krankenpfleger quasi die rechte Hand des Arztes sind“, sagt Benjamin Hübbertz–Ivartnik. Die Teilnehmer müssten sich auf ein neues Rollenprofil einlassen und wichtige Kompetenzen an den Arzt abtreten. Ihr Fachwissen könnten sie dennoch einbringen: So könnten sie zwar kein Medikament absetzen, aber doch die Frage stellen, ob es noch angezeigt sei.
Manche haben Fieber bisher in Fahrenheit gemessen
Vorbehalte gegenüber rein pflegerischen Tätigkeiten habe er noch nicht erlebt, im Gegenteil: Die Teilnehmer seien äußert wissbegierig. „Den Dekubitus kennt jeder von ihnen“, sagt Hübbertz–Ivartnik. Und jeder habe auch eine Idee, wie man das Wundliegen verhindern könne. „Aber den deutschen Expertenstandard zur Prophylaxe kennen sie noch nicht.“
In einigen Ländern werde noch mit Glasspritzen gearbeitet, die gereinigt und wieder verwendet werden. Mancherorts messe man Fieber nicht in Celsius, sondern in ortsüblichen Fahrenheit. Da müsse man sich eben umstellen, schwieriger falle vielen das Formulieren einer Pflegeplanung oder einer Anamnese.
Die Krankheitsbilder kennen sie – die deutschen Fachbegriffe müssen sie erst lernen
Die Sprache als Hürde erlebt auch Ahmad Qitan, mit dem man sich mühelos auf Deutsch unterhalten kann. „Ich kenne die Krankheitsbilder alle schon, aber nun muss ich die deutschen und die lateinischen Namen für sie lernen.“ Im Unterricht melde er sich, wenn der Lehrer zu schnell spreche, und auch die alten Menschen, die er betreut, müsse er schon mal bitten, etwas zu wiederholen. Aber die Leute reagierten nett und geduldig. „Nur meine Kinder lachen, wenn ich etwas Falsches sage.“
Menschen verschiedener Herkunft Wege in die Ausbildung ebnen
Das Bildungsinstitut im Gesundheitswesen (BIG) ist eine gemeinnützige GmbH und ein bundesweit tätiger Bildungsträger. In Essen sitzt das BIG im Etec-Gebäude an der Kruppstraße nahe der A40. Das BiG bietet Aus- und Weiterbildungen für Beschäftigte im Gesundheitswesen an. Außerdem ebnet es Menschen verschiedenster Herkunft den Weg in Ausbildung und Beschäftigung und entwickelt Konzepte zur Integration.
Im Rahmen des Projekts „Welcome“ werden u.a. Unternehmen aus dem Krankenhaus- und Pflegesektor unterstützt, Fachkräfte zu gewinnen, zu qualifizieren und betrieblich zu integrieren. Dabei geht es ebenso um Flüchtlinge wie um angeworbene Fachkräfte aus dem Ausland.
Am Ende müssten die Teilnehmer sicher in ihrem alten Beruf und in der neuen Sprache sein, betont Hübbertz–Ivartnik. Man ermuntere sie daher, auch in den Pausen Deutsch zu sprechen und sei froh, dass sich schon multinationale Lerngruppen gebildet haben. Um ihnen den Berufseinstieg zu erleichtern, werden sie im Projekt „Welcome“ eng begleitet.
„Wir wollen das qualifiziertes Personal am Krankenbett steht“
Sie alle haben auch andere Baustellen, so wie Ahmad Qitan, der zwar als Flüchtling anerkannt, aber dennoch Dauergast bei der Ausländerbehörde ist. Seine Frau möchte gern wieder als Grundschullehrerin arbeiten, auch das geht nicht ohne Papierkram. Und schließlich lebt er in Angst um seine Eltern, die noch immer in Syrien sind. „Vor Corona können Sie sich schützen, vor einem Krieg nicht.“
Benjamin Hübbertz–Ivartnik hat großen Respekt vor den Lebensgeschichten der Teilnehmer, in der Vorstellungsrunde erlebe er oft „Gänsehautmomente“, wenn er sie höre. Trotzdem gelte für alle das Klassenziel: „Wir entlassen die Menschen hier nicht einfach, weil der Markt sie braucht, sondern damit am Krankenbett qualifiziertes Personal steht.“