Essen. Das Druckhaus Essen schließt, WAZ und NRZ werden in Hagen gedruckt. „Wir waren Familie“, sagt das Team. Bei der letzten Schicht flossen Tränen.
Abertausende Überschriften haben sie auf Druckplatten gebannt und in die Maschinen geschickt, haben dafür gesorgt, dass die kleine Nachricht von nebenan und die Katastrophe von Weltformat gedruckt wurden, dass Tag für Tag eine Zeitung erschien. Doch diese eine Überschrift auf Seite 3 des Lokalteils, die sie am Freitag (19. Juni 2020) in den Druck geben, verkündet ihr persönliches Ungemach: „Der letzte Zeitungsdruck in Essen.“
„Wir haben Tag und Nacht gedruckt, die Maschinen standen ja nie still“
Das mächtige Druckhaus an der Schederhofstraße in Holsterhausen wird geschlossen. „Wir haben nie vermutet, dass das hier untergehen kann“, sagt Rotationshelfer Dieter Richter (55). Dabei hat er das schon mal erlebt: Er war einst Bergmechaniker auf Zeche Consolidation in Gelsenkirchen. Nun ist er schon sein halbes Leben im Druckhaus, und wird jetzt nicht ins Bergfreie fallen: Richter geht mit nach Hagen, wo WAZ und NRZ ab sofort gedruckt werden. Trotzdem: „Es ist ein komisches Gefühl, wir haben hier Jahrzehnte zusammen gearbeitet.“
Gut 30 Jahre sind es bei Andreas Boekhorst (58), dem stellvertretenden Rotationsleiter. Zuvor habe er Druckereitechnik in Wuppertal studiert: „Ich wollte immer zur Zeitung.“ Er hat die großen Zeiten miterlebt, als Woche für Woche viele Millionen Zeitungen das Druckhaus Essen verließen. Als es Arbeit gab für acht Druckstraßen, von denen jetzt noch zwei genutzt werden. „Wir haben Tag und Nacht gedruckt, die Maschinen standen ja nie still.“
Die Zeitungsauflage ist stetig geschrumpft
Doch die Tageszeitungsauflagen sind seit Jahren rückläufig, zuletzt waren beide NRW-Druckereien der Funke-Mediengruppe nur noch jeweils etwa zur Hälfte ausgelastet. Das Unternehmen beschloss daher nun, nur noch am größeren Standort in Hagen zu drucken. Neben vielen Kollegen zieht auch ein Teil der Essener Technik mit um, außerdem investiert der Konzern in das Haus in Hagen. Die Print-Titel bleiben, das Zukunftsprogramm von Funke ist indes digital ausgerichtet.
Mehr als ein Arbeitsplatz: Die Kollegen haben hier Jahrzehnte lang zusammen gearbeitet
E-Paper, Online-Artikel, Push-Nachrichten, Newsletter – „die Zeitung will keiner mehr“, sagt Bernd Franke. Er weiß, dass das so nicht stimmt, dass es noch immer viele Tausend Abonnenten gibt. Er selbst hat sich eben ein Exemplar vom Band gefischt, als Souvenir. Anders als Boekhorst und Richter wird er nicht mehr mit nach Hagen wechseln. Dieser Freitag ist sein letzter Arbeitstag als Rotationshelfer, nach 34 Jahren. Künftig wird er die in Hagen gedruckte Zeitung daheim in Essen lesen oder auf dem Zeltplatz in Wesel.
Familie Franke und die Funke-Mediengruppe sind eng verbunden: Frankes Frau arbeitet in der Firmenzentrale am Berliner Platz, sein Sohn hat seine Ausbildung in dem Medienhaus gemacht. Sein Schwiegervater Günter Schwerdtfeger war einst Leiter der Druckerei. Er ist jetzt 85 Jahre alt und bekommt die WAZ täglich ins Seniorenheim. „Dass das Druckhaus schließt, das er aufgebaut hat, dass sein Werk so endet, ist traurig.“
Essen, das sei doch das Mutterhaus, sagt Franke. Und es war für viele Kollegen eine zweite Familie: Betriebsratschef Frank Ostrowski (55) hat seine Tochter schon mit an den Arbeitsplatz genommen, als sie ein Teenager war. Heute ist Janine 27 Jahre alt, trägt den Nachnamen Wieliczko – und arbeitet für die Funke-Mediengruppe in der Kundenbindung. Sie hat schon viele Druckhausführungen für Leser organisiert, hat gesehen, wie beeindruckt sie sind.
Gewaltige Maschinen, die mit der Präzision eines Uhrwerks arbeiten
Von der Wucht, mit der sich die Maschinen zum ersten Andruck um 20 Uhr in Bewegung setzen, vom Tempo mit dem die Papierbahnen durch den Druckturm gezogen werden, um bald darauf als perfekt gefaltete Zeitungen an Transportketten über ihren Köpfen zur Versandhalle zu schweben. 38.000 Zeitungen werden pro Stunde gedruckt. „Es ist ein Uhrwerk, das absolut präzise ineinandergreift“, schwärmt Frank Ostrowski noch nach drei Jahrzehnten.
Eine Präzision, die ohne den Menschen nicht funktioniert: Wenn die fertigen Zeitungsseiten digital aus der Redaktion ins Druckhaus kommen, wird für jede Seite eine Druckplatte erstellt, die die Kollegen in die Druckmaschine einspannen. Im Laufe einer langen Nacht werden die Seiten vielfach aktualisiert, wird da noch das Ergebnis eines Fußballspiels nachgetragen – „und dort ein Komma“, scherzt Daniela Degenhard. Es braucht hohe Konzentration, da den Überblick zu behalten.
Als die letzten Zeitungen gedruckt werden, fließen Tränen im Druckhaus Essen
Degenhard, die als technische Mitarbeiterin im Druckleitstand arbeitet, kennt alle Arbeitsschritte. Wer die 49-Jährige durchs Druckhaus begleitet, erlebt, wie sie jeden Kollegen begrüßt und manche Maschine. Nur jene Schneidemaschine ist nicht mehr da: „Das war das Baby von meinem Vater, der war der Schneidekönig.“ Der Vater ist seit einigen Jahren in Rente, die Tochter wird in Hagen weiterarbeiten. Sie erinnert sich noch an die Zeit, als am Wochenende 750.000 Exemplare der WAZ gedruckt wurden. „Irgendwann hab’ ich aufgehört, die Auflagenentwicklung zu verfolgen, weil das zu weh tut.“
Degenhard wird nicht arbeitslos, aber die „Familie Druckhaus“ mit zuletzt noch 120 Köpfen sei zerstört. In Hagen werden sie und ihre Kollegen sich neu sortieren, andere Arbeiten übernehmen müssen, die Fahrerei wird länger. Als um 1.20 Uhr die letzten Zeitungen in Essen gedruckt werden, fließen Tränen. Ostrowski hält den „bewegenden Moment“ in einem Video fest, nimmt eine Druckplatte der Seite 1 als Erinnerung mit.
Auch die früheren Kollegen gehören zur Druckhaus-Familie: Gemeinsam nehmen sie Abschied
Coronabedingt darf es keine große Party in der Maschinenhalle geben, doch vor dem Werkstor stehen Bierkästen und Männer. „Ich leide an gebrochenem Herzen“, sagt Daniela Degenhard. Aber sie strahlt, als sie die vielen ehemaligen Kollegen entdeckt: Die Familie ist gekommen, um Abschied zu nehmen.
Funke Mediengruppe: Über 70 Jahre Zeitungsgeschichte
Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) wurde 1948 von Erich Brost und Jakob Funke gegründet und entwickelte sich zu einem der größten Medienkonzerne Deutschlands: Anfang 2019 ist das Unternehmen aus dem früheren Zeitungsviertel an der Friedrichstraße an den neuen Sitz am Berliner Platz (Adresse: Jakob-Funke-Platz 1 und 2) in Essen gezogen. Dem Ausscheiden der Brost-Erben war die Umbenennung in Funke-Mediengruppe gefolgt; zu ihr gehören zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften mitsamt ihrer Digitalausgaben.
Das Essener Druckhaus der Funke-Mediengruppe (vormals WAZ-Gruppe) entstand in den 1970er Jahren an der Schederhofstraße und ersetzte die zu klein gewordene Druckstraße an der Friedrichstraße/Sachsenstraße in Essen. Bis 1953 war die WAZ in Bochum ansässig und wurde auch dort gedruckt. Die NRZ (Neue Ruhr/Rhein Zeitung) hatte schon zuvor ihren Sitz in Essen. Wegen sinkender Auflagen schließt das Druckhaus Essen im Juni 2020, WAZ und NRZ werden ab sofort am größeren Standort Hagen gedruckt.