Essen. Sie warnen vor dunklen Mächten, tun Corona als Erfindung ab: Laut Sekten-Info glauben auch einige Ärzte und Therapeuten an Verschwörungstheorien.

Mit Sorge beobachtet das Sekten-Info NRW die rasante Verbreitung von Verschwörungstheorien. Selbst Fachleute aus dem Gesundheitswesen ließen sich von Erzählungen über verborgene Mächte beeinflussen, heißt es im Jahresbericht 2019. Der besorgniserregende Trend aus dem vergangenen Jahr setze sich in der Coronakrise mit Wucht fort: „Wir haben täglich Anrufe zu dem Thema“, sagt die Leiterin des Sekten-Infos, Sabine Riede.

Insgesamt 975 Anfragen gingen 2019 beim Sekten-Info ein, sie betrafen fast 500 verschiedene Gruppierungen von der esoterischen Mini-Truppe von nebenan bis zu Global Playern wie Scientology oder den Zeugen Jehovas. Auch deren Heilsversprechen seien häufig mit Verschwörungstheorien verwoben, sagt Sabine Riede. Dazu addierten sich weitere 40 Beratungsfälle, bei denen es ausschließlich um Verschwörungserzählungen ging – doppelt so viele wie noch 2018. „Oft melden sich Verwandte, die besorgt sind, weil die Mutter, die bisher einen kleinen Hang zur Esoterik hatte, nun an eine Weltverschwörung glaubt.“

Besorgte Verwandte rufen an, wenn Mutter oder Partner Verschwörungstheorien plötzlich verbreiten

Da werde plötzlich mit Inbrunst vor den Corona-Maßnahmen gewarnt, da seien Familienmitglieder überzeugt, dass Millionen Kinder unterirdisch gefangen gehalten und versklavt würden. Meist fragten die Anrufer, wie sie ihre Verwandten oder Freunde überzeugen könnten, dass sie Unfug aufsäßen. „Wir sagen dann, dass man in solchen Fällen wenig über den Kopf erreicht, sondern erst schauen sollte, was emotional dahinter steckt“, sagt Sabine Riede.

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Betroffene erlebten oft ein Gefühl von Kontrollverlust und Machtlosigkeit, aus dem heraus ein Misstrauen gegen Wissenschaft und Politik entstehe. Mit wissenschaftlichen Argumenten komme man da nicht weit: „Wichtiger ist es, erstmal die Ängste der Betroffenen ernst zu nehmen, sonst erreicht man sie nicht.“ Auch so brauche man viel Geduld.

Das liege auch daran, dass sich besorgte Anrufer meist erst dann melden, wenn sich ihre Angehörigen schon verhärtet haben und kaum noch aus ihrer kruden Gedankenwelt zu lösen seien. In einem eigenen Flyer zum Thema Verschwörungstheorien ermutigt das Sekten-Info daher, lieber schon anzurufen, wenn einem etwas „komisch“ vorkomme: „Auch wenn Sie Ihre Zweifel nicht konkret benennen können.“

Keine harmlosen Spinnereien: „Im Einzelfall kann es gesundheitliche Folgen haben“

Den Eindruck, es handele sich um harmlose Spinnereien, tritt das Sekten-Info entgegen: Es gebe auch Experten, deren Wissenschaftlichkeit unter dem Eindruck von Verschwörungstheorien leide. „Das kann im Einzelfall bei Ärzten und Therapeuten zu schweren gesundheitlichen Folgen für die zu betreuenden Patienten führen“, mahnt Riede.

Sekten-Info berät Betroffene und ihre Angehörigen

Das Sekten-Info NRW berät bei Fragen und Konflikten im Zusammenhang mit religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, sogenannten „Sekten“, dem Esoterikmarkt und Verschwörungstheorien. Es unterstützt Betroffene genauso wie Angehörige.

Das Sekten-Info NRW hat seinen Sitz an der Rottstraße 24 in Essen. Kontakt: 0201 23 46 46 oder . Telefonische Sprechzeiten: Montag bis Freitag (außer Mittwoch) 9.30 bis 12 Uhr und 13 bis 15.30 Uhr.

Der Jahresbericht 2019 kann ab Freitag (29. Mai) 10 Uhr heruntergeladen werden auf:
https://sekten-info-nrw.de

Als Prävention sei es daher durchaus sinnvoll, wenn populäre Verschwörungstheorien in Medien auf ihren Wahrheitsgehalt abgeklopft und mit Sachargumenten widerlegt würden. Wer anfällig, aber noch offen sei, könne so vor dem Sog der Lügengespinste bewahrt werden. Wie verheerend der sein kann, macht ein vom Sekten-Info veröffentlichtes Protokoll deutlich, in dem ein Betroffener schildert, wie er selbst angstmachende Behauptungen weiterverbreitete, obwohl sie für ihn „immer belastender“ wurden. Ein Teufelskreis, aus dem er sich mit Hilfe der Beratungsstelle befreite.

Die hatte neben den Verschwörungstheoretikern im vergangenen Jahr auch wieder mit Sekten, Esoterikern, Gurus, Psychogruppen, Satanismus oder Neureligionen zu tun. Und: Gerade junge Leute seien für ebenso unseriöse wie kostspielige Coachingangebote anfällig.

Honorare für fragwürdige Heiler können mitunter wieder eingeklagt werden

Einen deutlichen Anstieg der Beratungsfälle gibt es bei der koreanischen Gemeinde Shinchonji (31), zu der das Sekten-Info eine Broschüre bereithält. Viele Beratungsfälle habe es auch zu den Zeugen Jehovas (48) und Scientology (20) gegeben. Die einen nutzten die Coronakrise als Hinweis auf den nahen Weltuntergang, die anderen spielten die Gefahr herunter à la: „Der Staat will uns zu gängeln.“

Heilern biete die Pandemie unterdessen einen weiteren Anlass, ihre Tipps und Heilmittel zu vertreiben. Die Erfahrung zeige, dass Ratsuchende hier oft bis „über die Grenze der finanziellen Leistungsfähigkeit gehen“, warnt das Sekten-Info. Zuletzt seien jedoch die Chancen deutlich gestiegen, auf juristischem Wege Honorare für wirkungslose Behandlungen zu erstreiten, sagt Sabine Riede. „Wir raten daher oft zu, in diesen Konflikt zu gehen.“

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