Essen. . Das Corona-Virus stellt das Ethikkomitee des Krupp-Krankenhauses vor komplett neue Fragen. Ein Gespräch über die Bewertung von Überlebenschancen.

Professor Rolf Diehl hat gemeinsam mit Thomas Urban vom Schmerz und Pflegedienst den Vorsitz des Ehtikkomitees am Alfried-Krupp-Krankenhaus in Essen-Rüttenscheid inne. Wir sprachen mit ihm über die Arbeit des Komitees - und welchen Einfluss die Pandemie auf dessen Tätigkeit hat.

Herr Professor Diehl, wieso brauchen wir Ethikkomitees? Eigentlich sollten doch die medizinischen Leitlinien die Grundlagen einer Behandlung ausreichend definieren.

Ja, die Leitlinien definieren die medizinischen Standards einer Behandlung. Allerdings ist jeder Patient anders. Die Leitlinien passen nicht immer: Der Einzelfall ist für gewöhnlich sperrig. Hinzu kommt, dass sich seit der Einführung der Patientenverfügung im Jahre 2009 die medizinische Versorgung in Deutschland grundsätzlich verändert hat.

Inwiefern?

Heute steht der Patientenwillen gleichberechtigt neben den medizinischen Leitlinien - was mitunter zu extremen Entscheidungen führen kann: Wenn zum Beispiel ein Notfall-Patient eingeliefert wird und er mit lebensrettenden Maßnahmen stabilisiert werden konnte, muss eigentlich selbst diese Behandlung abgebrochen werden, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass der Patient die invasive Beatmung ausdrücklich ablehnt.

Ist das dann nicht so etwas wie aktive Sterbehilfe?

Ausdrücklich nein! Man lässt das Sterben zu, weil es der Patient so verfügt hat. Dazu gibt es auch eindeutige höchstrichterliche Urteile: Wir sind dazu verpflichtet, den Patientenwillen zu erfüllen.

Von Ärzten wird oft argumentiert, der Patient könne gar nicht einschätzen, was letztlich gut für ihn ist.

Stichwort: Ethikkomitee

Das Ethikkomitee des Alfried-Krupp-Krankenhauses in Essen-Rüttenscheid hat deutschlandweit als eines der ersten im Jahr 2011 die klinische Beratung aufgenommen. Es besteht aus Ärzten, Pflegern, Psychologen, Sozialarbeitern, und Seelsorgern. Das Komitee prüft in einer Einzelfallentscheidung, inwiefern der eingeschlagene Behandlungsweg einem Patienten nützt – und ob sie seinem Willen entspricht. Es geht dabei stets um Patienten-zentrierte Behandlung.

Das Ethikkomitee kann von allen Seiten angerufen werden, die mit dem Fall befasst sind: Jeder, der begründete Zweifel hegt, dass eine Behandlung dem Patienten nicht hilft oder nicht dessen Wünschen entsprechen könnte, kann das Ethikkomitee hinzuziehen.

Professor Rolf Diehl, medizinpsychologischer Leiter des Demenzmanagements der Klinik für Neurologie, hat gemeinsam mit Thomas Urban vom Schmerz und Pflegedienst den Vorsitz des Ehtikkomitees inne.

Inzwischen verfügen bundesweit fast alle Krankenhäuser über ein solches Komitee. Mit der Einführung der Patientenverfügungen im Jahre 2009 hat die Bedeutung der Komitees enorm zugenommen.

Das Gesetz sieht allerdings eine sehr weitreichende Autonomie des Patienten vor – selbst, wenn er sich aus Sicht der Mediziner damit selbst schadet. Mit dem letzten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum ärztlich assistierten Suizid ist dieser Grundsatz juristisch nochmals verstärkt worden. Aber Patientenverfügungen, in denen die Menschen ihre Behandlungswünsche festlegen, greifen oft bei spezifischen medizinischen Fragen nicht. Umso wichtiger ist die Arbeit der Ethikkomitees, um in solchen Fällen zu vermitteln.

Wie sind Ihre Erfahrungen damit?

Extrem gut: Das Alfried-Krupp-Krankenhaus in Rüttenscheid war eine der ersten medizinischen Einrichtungen in Essen, an denen ab 2011 die klinische Beratung durch das Ethikkomitee begonnen hat. Seither nehmen wir uns für jeden Fall viel Zeit, um eine Patienten-zentrierte Versorgung zu sichern. Wir diskutieren mit allen Beteiligten und nach einem festen Prüf-Schema alle Aspekte der Behandlung. Es wird dabei die Position der Mediziner, der Pfleger und der Angehörigen oder Bevollmächtigten angehört. Am Ende gibt das Komitee eine Empfehlung ab.

Und wie bindend ist die?

Wir sind kein Tribunal – wir geben Rat. Die Verantwortung bleibt in der Hand der behandelnden Ärzte. Aber in 90 % der Fälle folgen hier am Krupp-Krankenhaus die Mediziner dem Rat der Komitees.

Wie kann ich mir sowas vorstellen?

Bleiben wir bei unserem Beispiel des Notfallpatienten, der in seiner Patientenverfügung lebensverlängernde Maßnahmen abgelehnt hat. Im Prinzip müsste man wie gesagt die intensiv-medizinische Behandlung sofort beenden. Ein Kompromiss könnte beispielsweise sein, in einem ersten kontrollierten Schritt die invasive Beatmung zu stoppen – überlebt er diesen Schritt, könnte in Absprache mit Angehörigen oder Bevollmächtigten die medizinische Versorgung fortgesetzt werden.

Einer der beiden Vorsitzenden des Ethikkomitees des Alfried Krupp Krankenhauses Rüttenscheid: Professor Rolf Diehl
Einer der beiden Vorsitzenden des Ethikkomitees des Alfried Krupp Krankenhauses Rüttenscheid: Professor Rolf Diehl © Alfried Krupp Krankenhaus Rüttenscheid

Wie hat sich die Arbeit des Komitees in Zeiten von Corona verändert?

Wir mussten uns mit tiefgreifenden Fragen befassen, zum Beispiel: Wer wird noch behandelt, wessen Behandlung wird abgelehnt, wenn die Intensivbetten knapp werden? Das ist Gott sei Dank nicht eingetroffen. Solche Situationen wie in New York, Italien oder Spanien hat es bei uns nicht gegeben. Dennoch haben wir in der Frühphase der Pandemie auch Triageregeln für unsere Kliniken festgelegt – und damit definiert, wer im Notfall behandelt wird und wen man weitgehend seinem Schicksal überlassen muss.

Was antworten Sie Menschen, die solche Überlegungen für zynisch halten?

Natürlich wirken solche Regeln auf Außenstehende zynisch. Letztlich steht ja im Raum, dass ein Leben höher bewertet wird als das andere. Andererseits brauchen Ärzte klare Regeln, wie in solchen Notfällen verfahren werden soll – ohne Willkür. Es geht darum, möglichst viele Leben zu retten. Und da gibt es Leitlinien, nach denen beurteilt wird, wer die besten Überlebenschancen hat. Und das hängt nicht unmittelbar mit dem Alter zusammen, sondern an der gesundheitlichen Gesamtkonstellation.

A propos Alter und Corona: Es gab in diesem Zusammenhang zuletzt heftige Debatten darüber, ob wir für den Schutz der Risikogruppen gesamtgesellschaftlich einen zu hohen Preis zahlen: Kinder, die nicht ordentlich beschult werden, wirtschaftliche Existenzen, die vernichtet werden, die Weltwirtschaft, die gerade abschmiert. Bundestagspräsident Schäuble hat die Diskussion aufgegriffen und darauf verwiesen, dass man dem Schutz des Lebens nicht alles andere unterordnen dürfe. Wie sehen Sie als Medizin-Ethiker das?

Das ist eine schwierige Debatte: Der Homo Sapiens muss seit Jahrtausenden mit Risiken leben. Absoluten Schutz hat es also nie gegeben und wird es auch niemals geben – für niemanden. Wir können Lebensrisiken nicht komplett ausschließen. Wir stoppen ja auch den Verkehr nicht, obwohl wir pro Jahr 3000 Verkehrstote beklagen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es jedoch gut, dass die Staaten unterschiedliche Kurse bei der Bekämpfung der Pandemie eingeschlagen haben. So treibt man anhand der unterschiedlichen Erkenntnisse die Erforschung des Virus und seiner Ausbreitung voran.

Was kann man beispielsweise vom vielzitierten schwedischen Modell lernen?

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Schweden hat eine relativ hohe Sterberate, strebt aber aufgrund der schnelleren Durchseuchung die Herden-Immunität bereits im Sommer an und hätte die Pandemie damit quasi überwunden. Zwei Seiten derselben Medaille. Es bleibt in der jetzigen Situation eine ständige Güterabwägung, wie weit man das Leben wieder normalisiert. Klar ist: Wir werden mit dem Virus leben müssen. Und wir werden letztlich erst in zwei, drei Jahren wissen, welcher Weg der richtige war.

Wie sehen Sie die jüngsten Vorschläge, man möge die Risikogruppen möglichst isolieren, um die Pandemie-Maßnahmen aufzuheben, um zum Beispiel alle Schulen und Kitas öffnen zu können?

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Ein wie immer geartetes Wegsperren von Risikogruppen ist natürlich kein Weg, den man beschreiten sollte. Wir haben aber als Ethikkomitee sehr gute Erfahrungen gemacht mit transparenter Moderation, und auch als Gesellschaft haben wir gute Erfahrungen gemacht mit der Freiwilligkeit von Maßnahmen. Ich kann ja als Person einer Risikogruppe entweder fordern, dass alle Rücksicht nehmen, weil ich mich draußen bewegen will. Oder der Betreffende sagt sich: Eigentlich müsste ich zuhause bleiben, damit alle anderen wieder zur Normalität zurückkehren können - ich kenne aber mein Risiko und nehme es auf mich. Wir müssen diese Debatten führen, weil es ja tatsächlich unmöglich ist, aufgrund des Virus unseren Alltag noch monatelang drastisch zu beschränken und damit beispielsweise zu riskieren, dass hunderttausende Kinder bleibende psychische Schäden erleiden.