Essen. Die neue Leiterin der Essener Bahnhofsmission ist erst 29 – und schon alt gedient: Erste Berufserfahrung hat sie 2011 als Praktikantin gesammelt.
Als Sandra Dausend 2011 ihr Praktikum bei der Essener Bahnhofsmission begann, lernte sie eine neue Welt kennen. „Die krassen Kontraste zwischen Arm und Reich, die Probleme, die Not, ich hatte das nicht so nicht wahrgenommen – auch nicht, wenn ich im Bahnhof unterwegs war.“ Sie ist in Sprockhövel aufgewachsen, hat in Hattingen Abi gemacht: „Ich kam behütet vom Dorf und war schockiert.“ Und gleich nach dem Schock kam die Begeisterung für eine Arbeit, die jeden Tag anders, aber immer nah am Menschen ist. Darum spricht sie von ihrem Traumjob, wenn sie nun mit 29 Jahren als Leiterin der Bahnhofsmission zurückkehrt.
Schon als Schülerin hatte sie sich für soziale Themen interessiert, später ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht und gern die Berichte ihrer älteren Schwester gehört, die schon vor ihr bei der Bahnhofsmission mitgearbeitet hatte. Wie die Schwester studierte auch Sandra Dausend soziale Arbeit und blieb bis zum Abschluss als studentische Hilfskraft bei der Bahnhofsmission.
„Ich hatte nie Angst vor Menschen, und hier habe ich unfassbare Geschichten gehört“
Am Anfang sei sie überwältigt gewesen, doch das habe sie motiviert, neugierig gemacht. „Ich hatte nie Angst vor Menschen, und hier habe ich unfassbare Geschichten gehört, haben mir Leute erzählt, warum sie wohnungslos sind, welches Schicksal dahinter steckt. Hier war der Beginn meiner Sozialarbeiterkarriere!“
Begünstigt wurde das, weil die Bahnhofsmission von den Freiwilligen lebt: Das hauptamtliche Team besteht aus vier studentischen Hilfskräften, einer Honorarkraft, Leiterin und Stellvertreterin – dem stehen rund 60 Ehrenamtliche gegenüber. „Die sind bunt gemischt, es gibt die Rentnerin ebenso wie IT-Experten.“
Bunt gemischt seien auch die Menschen, um die sich das Team kümmere: „Hier haben wir die ganze Bandbreite: von Suchtabhängigen über psychisch Kranke und Opfern von Menschenhandel … bis zu Menschen ohne besondere Probleme.“ Die Bahnhofsmission ist nicht nur Anlaufstelle für gesellschaftlich Gestrandete oder Einsame, die bei einem Kaffee durchatmen können. Sie kümmert sich auch um Reisende, die nur mit einem stützenden Arm von einem Bahnsteig zum anderen kommen, um alleinreisende Kinder, die im Bahnhof verloren gehen könnten oder um Menschen, denen das Portemonnaie gestohlen wurde. Service für jedermann.
Ihre Mutter findet ihren Job spannend – ihr Vater sähe sie wohl lieber in einer Bank
Mit einem ähnlich breiten Querschnitt durch die Gesellschaft habe sie es übrigens auch bei ihrem letzten Job als Leiterin einer Flüchtlingsunterkunft in Kray zu tun gehabt – „nur dass da noch der Migrationshintergrund hinzu kam“.
Mitte April kehrte sie zurück zu ihren beruflichen Wurzeln, zum Trubel des Bahnhofs und einer Arbeit, die keine Routine kennt. Ihre Mutter finde das spannend, die habe selbst ein „Helferherz“, ihr Vater sähe sie wohl lieber in einem ruhigeren Job, etwa in der Bank. „Mir gefällt gerade, dass es hier keinen Arbeitsalltag gibt, dass man improvisieren muss. Weil sich jeder Tag anders gestaltet durch den, der zur Tür reinkommt.“
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Neu ist, dass derzeit niemand einfach zur Tür reinkommt, corona-bedingt ist die verschlossen. Trotzdem sind sie von 9.30 bis 16 Uhr vor Ort, kümmert sich um Notfälle. Bald nach ihrem Dienstantritt hat Sandra Dausend beschlossen, „dass wir rausgehen müssen zu den Leuten“. Denn derzeit seien alle Tagesaufenthalte geschlossen, dabei bieten die ja nicht bloß einen trockenen Aufenthalt, sondern Trost.
Bei den Wohnungslosen ist der Mundschutz gerade begehrter als die belegten Brötchen
Also ziehen sie jetzt los, Streetworker, die Kaffee und belegte Brötchen bringen und die Botschaft: „Wir sind wieder da.“ Die Dankbarkeit sei groß, auch für Gaben, die sie neu im Angebot haben: „Mundschutz und Desinfektionsmittel sind begehrter als Brötchen.“ Gut, dass ein Gastronom aus Haarzopf gerade 60 Masken gespendet habe. Ohnehin seien die Obdachlosen in der Bevölkerung nicht vergessen, viele Essener brächten jetzt Spenden. Und sie überlegten gerade, selbstgenähte Masken an Wohnungslose zu verteilen und diese dann in der Bahnhofsmission zu waschen, die Maschine sei ja da.
Es gibt auch einen Herd, und manchmal schmeißt ein Schicht-Team zusammen, kocht und isst gemeinsam. Ob haupt- oder ehrenamtlich: Sie sind sich nah, wenn Corona nicht gerade Distanz erzwingt. „Die Ehrenamtlichen vermissen die Arbeit hier, darum machen wir jetzt Live-Streams.“ Ja, Sandra Dausend fühlt sich bei der Bahnhofsmission zu Hause – und in Essen übrigens auch: Sie zieht jetzt nach Kray.