Essen. Christian Klatte arbeitet seit zehn Jahren als Ehrenamtlicher im Franz-Sales-Haus in Essen. Er will auch weitermachen, wenn er im Juli Vater wird

Nach seinem Schnuppertag als Ehrenamtlicher im Franz-Sales-Haus hatte Christian Klatte eigentlich schon genug: „Das war echt extrem – und nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.“ Zehn Jahre ist das her, und der 38-Jährige ist immer noch dabei. Er kommt Woche für Woche, schreibt Karten aus dem Urlaub und leidet in Zeiten von Corona, weil er noch nie so lange von seiner Gruppe getrennt war.

Als er damals anfing, war er gerade von Osnabrück nach Essen gezogen, hatte einen neuen Job beim Energiekonzern RWE angetreten und in Essen noch wenig Kontakte. Zeit also, um sich ehrenamtlich zu engagieren. Christian Klatte hatte vor seiner IT-Ausbildung mal damit geliebäugelt, Logopäde zu werden und eine Hospitanz in einem inklusiven Kindergarten gemacht: Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen hatte er nicht.

Der Schnuppertag war extrem fordernd – danach hätte er beinahe aufgegeben

Also meldete er sich, als das Franz-Sales-Haus Helfer für einen besonderen „Fun-Samstag“ suchte: ein Angebot für schwerst-mehrfachbehinderte junge Leute, die sonst von ihren Eltern betreut wurden. Die Ehrenamts-Koordinatorin Claudia Rösner bereitete ihn auf den Tag vor, ein hauptamtlicher Mitarbeiter stand ihm bei der Begleitung eines einzelnen Jugendlichen zur Seite.

Trotzdem sei dieser Samstag äußerst fordernd gewesen, und als er beim Essen mal 20 Sekunden unaufmerksam war, hatte sein Schützling nicht nur eine ganze Flasche Ketchup ausgeleert, „sondern auch noch seinen Kopf ins Ketchup gedrückt“. Christian Klatte konnte nachvollziehen, wie wertvoll dieser freie Tag für die Eltern war. Doch er fühle sich für einen so betreuungsintensiven Einsatz nicht gewappnet, sagte er Claudia Rösner.

Ehrenamtliche schenken Zeit für Busfahrt oder Bauchtanzkurs

Ehrenamtliche gab es im Essener Franz-Sales-Haus praktisch schon immer, aber seit dem Jahr 2005 gibt es auch eine Ehrenamts-Koordinatorin. Sie heißt Claudia Rösner und weiß, welcher Bewohner sich gerade einen Begleiter für Einkauf oder Radtour wünscht, welche Wohngruppe sich über einen Besucher freut, der Ausflüge am Wochenende begleitet oder bei Gesellschaftsspielen mit am Tisch sitzt.

Wenn sich ein neuer Ehrenamtlicher meldet, setzt sich Claudia Rösner mit ihm zusammen, um zu schauen, welche Aufgabe passen könnte. Dann organisiert sie erst einen Hospitations-Tag, bevor der Ehrenamtliche den Bewohner oder die Gruppe kennenlernt, um die er sich kümmern wird. In der Schnupperphase wird er eng betreut, später kann er an Workshops teilnehmen.

Meist gehe es um einfache Einsätze: Es gibt Bewohner, die gern Bus und Bahn fahren und dafür einen Begleiter brauchen. Rollstuhlfahrer wünschen sich jemanden, der mit ihnen spazieren geht. „Oft wird auch jemand gesucht, der mit zu Spielen von RWE oder Tusem fährt.“ Andere Freiwillige gehen mit in den Chor, den Mal- oder Bauchtanzkurs – für kleine Hilfestellungen und den Motivationsschub.

Es gehe um Freizeitgestaltung, und darum, dass jemand Zeit mitbringt. Manchen Bewohnern tue es gut, einmal die ungeteilte Aufmerksamkeit eines anderen zu bekommen. „Viele Sachen machen auch die Mitarbeiter mit den Bewohnern, aber sie haben dafür nur begrenzt Zeit.“

Das Franz-Sales-Haus hat Wohngruppen in vielen Stadtteilen, Ehrenamtliche müssen also von zu Hause nicht unbedingt weite Wege zurücklegen. Corona-bedingt ruht der Einsatz der Ehrenamtlichen im Moment. Wer Interesse hat, kann sich aber schon jetzt bei Claudia Rösner melden unter 0201-2769-254 oder per Mail:

Sie schlug ihm vor, die Wohngruppe Thomas kennenzulernen, deren Bewohner meist geistige Behinderungen haben, sich aber selbstständig auf dem Gelände an der Steeler Straße bewegen können. Die 16 Bewohner seien damals zwischen 22 und 66 Jahre alt gewesen, das Kennenlernen erlebte Klatte als „Initialzündung“: Er kam und blieb, freundete sich mit der ganzen Gruppe an, kochte, machte Brettspiele, begleitete Bewohner zu Schlagerpartys, zu Candle-Light-Dinner und Klamottenkauf. Sogar Heiligabend verbrachte er zweimal in der Gruppe.

An der Steeler Straße in Essen steht das Hauptgebäude des Franz-Sales Hauses, auf dem weitläufigen Gelände gibt es auch Sport- und Bildungsangebote. Wohngruppen finden sich außerdem in vielen anderen Stadtteilen.
An der Steeler Straße in Essen steht das Hauptgebäude des Franz-Sales Hauses, auf dem weitläufigen Gelände gibt es auch Sport- und Bildungsangebote. Wohngruppen finden sich außerdem in vielen anderen Stadtteilen. © FUNKE Foto Services | Carsten Klein

Nicht alles sei einfach gewesen: Der Rollifahrer der Gruppe sei naturgemäß nicht so mobil wie die anderen, manche Bewohner habe er anfangs kaum verstehen können, sich in ihre Sprechweise einhören müssen. Und dann gab es noch denjenigen mit der Autismus-Spektrum-Störung, der eine feste Tagesstruktur benötigte. Seinetwegen kam Klatte anfangs immer mittwochs in die Gruppe. Er machte bei der Arbeit früher Schluss, traf gegen 20 nach vier ein und blieb bis sieben, acht Uhr am Abend.

Mit einem Bewohner geht er in die Kneipe, mit dem anderen auf den Bauernhof

Zu diesem langen Tag gesellten sich zeitweilig weitere Termine: Klatte begleitete einen Bewohner zu Pommes und Cola in eine Kneipe im Südviertel und fuhr jahrelang mit Theo H. zum Klosterberghof. Theo habe den Bauernhof des Franz-Sales-Hauses geliebt, und Klatte genoss die Ausflüge. Leider sei Theo im März mit 76 Jahren gestorben, das Verhältnis zu ihm sei besonders gewesen.

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Es habe schon mal Eifersucht zwischen den Bewohnern gegeben, wenn er mit einem von ihnen losziehen wollte: „Aber dann habe ich eben zwei oder drei mit zum Einkaufen genommen.“ Er schätze die direkte Art der Bewohner: „Die sind wie sie sind, spielen einem nichts vor.“ Wenn er in die Gruppe Thomas komme, werde er mit offener Freude empfangen, genauso habe es auch mal heikle Situationen und Aufregung gegeben.

Auch wenn Passanten irritiert sein sollten, bleibt er ruhig: „Mir ist nichts peinlich“

Einmal habe sich ein Bewohner so über einen Einkaufsbummel im Limbecker Platz so gefreut, „dass er in immer größeren Kreisen um mich herumsprang und dabei lautierte“. Sowas ziehe Blicke auf sich, aber die meisten Passanten begegneten ihm und seinen Begleitern positiv, und wenn jemand irritiert sei, könne er alles erklären. „Mir ist nichts peinlich.“

Sie koordiniert den Einsatz der rund 150 Ehrenamtlichen im Franz-Sales-Haus in Essen: Claudia Rösner. 
Sie koordiniert den Einsatz der rund 150 Ehrenamtlichen im Franz-Sales-Haus in Essen: Claudia Rösner.  © Franz-Sales-Haus

Unter den 150 Ehrenamtlichen im Franz-Sales-Haus gebe es auch andere, die schon viele Jahre dabei seien, sagt Koordinatorin Claudia Rösner. „Wenn jemand so lange und kontinuierlich kommt, profitieren die Bewohner sehr davon, da entstehen Freundschaften.“ Eine Ehrenamtliche habe eine Frau mit Autismus, die nicht spricht, ein halbes Jahr lang besucht, bis sie merkte: „Die freut sich, wenn ich komme.“

Seine Frau hat er im Franz-Sales-Haus kennengelernt

Geduld brauche man schon, sagt Christian Klatte, „und ein bisschen Einfühlungsvermögen“. Er selbst hat davon offenbar ein bisschen mehr. So sagt Silke Ramrath, die in der Gruppe Thomas arbeitet, über ihn: „Er kennt alle Bewohner und sie lieben ihn. Er ist unser Mann für alle Fälle.“ Auch zu den Mitarbeitern habe er ein enges Verhältnis: „Herr Klatte gehört einfach dazu. Wir möchten ihn nicht mehr missen.“

Coronabedingt kann Christian Klatte im Moment nur mit dem Team telefonieren. Aber auch er sagt, er könne sich nicht vorstellen, mit dieser Aufgabe aufzuhören. Auch nicht, wenn er im Juli Vater wird. Seine Frau habe dafür Verständnis: Sie ist Heilerziehungspflegerin – kennengelernt haben sie sich im Franz-Sales-Haus.