Essen. 150 Meter wurde der Schüler im Februar 2019 von einer U-Bahn in Essen mitgeschleift, er war in einer Tür eingeklemmt. Nun kämpft er sich zurück.

Ein gutes Jahr nach dem dramatischen U-Bahn-Unfall in Altenessen, bei dem ein Schüler in einer Tür eingeklemmt und rund 150 weit mitgeschleift wurde, wendet sich die Familie des 14-jährigen Esseners erstmals an die Öffentlichkeit. Die Mutter des Schülers berichtet, was am Morgen des 7. Februar 2019 passierte und wie es ihrem Sohn heute geht. Hamdin Semmo, das Unfallopfer, leidet noch heute massiv unter den Folgen der schweren Verletzungen.

Nach U-Bahn-Unfall: Es klingelte um kurz vor acht

Am 7. Februar 2019 klingelten morgens um fünf vor acht zwei Achtklässler am Haus von Familie Semmo in Altenessen. Die Mutter Nisrin Semmo (39) öffnete die Tür und sah zwei Jungen, denen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand, sie hatten ein Smartphone in der Hand. Es war das Gerät von Hamdin, einem der drei Söhne der Familie. „Die Jungen stotterten, konnten gar nicht reden, sie wollten mir Hamdins Handy geben und eigentlich erzählen, was passiert ist“, berichtet Nisrin Semmo heute. „Sie bekamen nur heraus, dass Hamdin im U-Bahn-Tunnel liegt. Ich bekam einen Schreck, denn ich dachte, er hätte Unsinn gemacht.“

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Einer der schlimmsten Unfälle der Geschichte des Essener Nahverkehrs

Es ist nicht sonderlich übertrieben, wenn man behauptet, dass sich keine halbe Stunde zuvor einer der schlimmsten Unfälle in der Geschichte des Essener Nahverkehrs abgespielt hat. Der damals 13-jährige Realschüler Hamdin Semmo war an der Haltestelle „II. Schichtstraße“ in Altenessen-Nord, nur wenige Fußminuten von seinem Zuhause entfernt, von der Schiebetür einer abfahrenden U-Bahn der Linie 11 mit der rechten Hand eingeklemmt und dann etwa 150 Meter bis zur nächsten Haltestelle mitgeschleift worden. Nur seine Hand war im Wageninneren, sein Körper außen. Zwischen der Haltestelle „II. Schichtstraße“ und dem nächsten Halt, „Karlsplatz“, fährt die U 11 in einen Tunnel; im Tunnel wurde Hamdins Kopf während der Fahrt immer wieder gegen die Tunnelwand geschmettert.

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Am U-Bahnsteig

Wie konnte das passieren? Hamdins Mutter hat es sich wieder und wieder erzählen lassen, viele Mitschüler bekamen den Vorfall mit, der ja auch lange Gegenstand polizeilicher, aufsichtsbehördlicher und staatsanwaltlicher Ermittlungen war. Demnach hatte Hamdin in die recht volle U-Bahn einsteigen wollen, es war kurz nach halb acht, Hamdin stand vor der letzten Tür des letzten Waggons, doch wegen des Gedränges beschloss er, eine andere Tür zu nehmen. Weil es auch dort voll war, rannte er wieder zur letzten Tür, versuchte noch, ins Wageninnere zu kommen – da schloss die Tür, und der folgenschwere Vorgang nahm seinen Lauf.

7. Februar 2019: Rettungskräfte versorgen den 13-Jährigen Schüler Hamdin noch am Unfallort.
7. Februar 2019: Rettungskräfte versorgen den 13-Jährigen Schüler Hamdin noch am Unfallort.

Erst am Karlsplatz kam die U-Bahn zum Stehen, vorher hatte der Fahrer weder bremsen dürfen noch können, obwohl mehrere Schüler die Notbremse zogen. Die Ermittlungen ergaben, dass der Fahrer, damals seit 38 Jahren im Dienst für die Ruhrbahn, nichts falsch gemacht hatte. Hamdin wurde schwer verletzt im Gleis vor dem U-Bahnhof Karlsplatz geborgen. Er war bei Bewusstsein.

Wie die Mutter des Schülers reagierte

„Ich rannte sofort zur Unfallstelle“, erzählt Nisrin Semmo, „doch man ließ mich nicht zu ihm, Hamdin war umringt von Ärzten und Sanitätern, die Polizei hielt mich zurück. Ich konnte nichts tun für meinen Sohn, das war schrecklich.“ Mit einem Hubschrauber wurde Hamdin ins Essener Uniklinikum geflogen, mit schwersten Kopfverletzungen, mehreren Brüchen und Prellungen am gesamten Körper. Die Ärzte setzten Hamdin ins künstliche Koma, öffneten seine Schädeldecke, damit das Hirn, das anzuschwellen begann, Platz hatte, sich auszubreiten. Erst sechs Stunden nach der Operation konnte die Mutter erstmals wieder ihren Sohn sehen.

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Von Martin Spletter, Hans-Karl Reintjens

Es vergingen etwa drei Wochen, in denen die Ärzte um Hamdins Leben kämpften und die Familie Semmo, Vater, Mutter, zwei Brüder, zwei Schwestern, um den 13-Jährigen bangten.

Die rechte Körperhälfte arbeitet nicht mehr vollständig

Nach drei Wochen wachte Hamdin aus dem Koma auf. Sofort starteten sie eine Reha-Maßnahme. Hamdins Kampf zurück ins Leben, er dauert bis heute an. „Er macht schnelle Fortschritte“, sagt die Mutter, „doch es ist noch ein langer Weg. Hamdin ist nach dem Unfall nicht mehr derselbe.“ Ob er überhaupt irgendwann wieder ganz der Alte sein wird – es steht in den Sternen.

Seine linke Kopfseite wurde bei dem Unfall schwer in Mitleidenschaft gezogen. Das bedeutet: Seine rechte Körperhälfte ist nicht mehr voll funktionsfähig, bis heute nicht. „Er musste lernen, alles mit links zu machen“, berichtet die Mutter. Er braucht Hilfe im Alltag. Dass er sich selbst Schuhe zubinden kann, daran ist nicht zu denken. Oder an Fußball, so wie früher, Hamdin war zuletzt Verteidiger beim TuS Helene. Seine rechte Hand kann kaum ein volles Glas Wasser halten, aber zumindest sitzt er nicht mehr im Rollstuhl, so wie es Monate lang nach dem Unfall zunächst der Fall war. Hamdin kann humpeln, sein rechtes Bein benötigt eine Schiene, eine „Orthese“, und das Sprechen, ganz neu gelernt, klappt auch, wenn auch langsamer als früher. „Mein Sohn“, sagt die Mutter, „ist ein Kämpfer. Ich danke den Ärzten und allen, die ihm geholfen haben und helfen, sehr.“

Wenige Stunden Schule am Tag

Vor Monaten, lange vor der Coronakrise, hat Hamdin auch damit begonnen, wieder in die Schule zu gehen – erst mal zwei bis drei Stunden am Tag, nur die Hauptfächer. Es fällt ihm schwer, sich zu konzentrieren oder sich Dinge zu merken. Hamdin geht nachmittags dreimal die Woche zu verschiedenen Therapeuten und Krankengymnasten, immer begleitet von seiner Familie, die intensiven Kontakt hält zu einem Rechtsanwalt, der einen Prozess anstrengen will gegen die Ruhrbahn.

Die Essener Haltestelle „II. Schichtstraße“ nach dem Unfall am 7. Februar 2019.
Die Essener Haltestelle „II. Schichtstraße“ nach dem Unfall am 7. Februar 2019. © KDF | KDF

Der Anwalt der Familie will, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden

Derzeit laufen keine staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen das Nahverkehrsunternehmen aus Essen. Die Ermittlungen gegen den Fahrer wurden, wie gesagt, eingestellt. Und: „Es wurden seitens der Staatsanwaltschaft, der Polizei und des von der Staatsanwaltschaft beauftragten Sachverständigen keinerlei technische Mängel an den Türen und sonstigen Sicherheitsmechanismen festgestellt“, betont Simone Klose, Sprecherin der Ruhrbahn.

Der Anwalt der Familie, Norman Werner aus Oberhausen, hält dagegen: „Für mich und meine Mandanten haben wir es hier mit fahrlässiger Körperverletzung zu tun.“ Bereits im Dezember 2018 habe es einen vergleichbaren Fall gegeben: Damals geriet der Kinderwagen einer Mutter in Altenessen in eine Tür der U-Bahn; die U-Bahn fuhr los, die Tochter wurde aus dem Kinderwagen geschleudert. Es passierte zum Glück nichts Schlimmes, der Fall kam schnell zu den Akten. Ob und wie weit damals die Ruhrbahn ihre Fahrzeuge hätte neu überprüfen lassen müssen, ist offen.

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Fest steht bislang nur, dass nach dem Unfall mit Hamdin Semmo, also nach dem Februar 2019, die Ruhrbahn erheblich in vorbeugende Maßnahmen investiert hat: Sämtliche Türen der U-Bahnen wurden mit Warnaufklebern versehen, und neue Lichtgitter-Warnsysteme wurden installiert, die – so betont die Ruhrbahn – weit über die gesetzlichen Sicherheits-Anforderungen hinausgehen. Damit will sich Anwalt Norman Werner nicht zufriedengeben: „Die Ruhrbahn hätte früher intensiver prüfen müssen, ob die Türen sicher sind.“

Ganz gleich, ob, wann und wie es zu einer Anklage gegen Verantwortliche der Ruhrbahn und der Aufsichtsbehörde, der Bezirksregierung Düsseldorf, kommen wird: Hamdin Semmo muss weiter zurück ins Leben finden. „Mein Sohn ist tapfer, aber trotzdem ist das alles nicht einfach“, sagt die Mutter. Und, so dramatisch wie die Lage auch ist: „Eigentlich haben wir alle noch Glück gehabt.“