Essen. Wegen Corona wird Essen wie im Ausnahmezustand geführt. OB Kufen spricht über Wege zum Wiedereinstieg, seine Gefühle und die Arbeit der Stadt.
Die Corona-Epidemie und ihre Folgen stellen Entscheidungsträger vor große Herausforderungen. Innerhalb kürzester Zeit mussten Politiker vom Bürgermeister bis zur Kanzlerin weitreichende Entscheidungen treffen, die das öffentliche Leben in einer Weise beeinflussen wie nie zuvor seit Gründung der Republik. Wie es dem Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen dabei geht, was er von den getroffenen Maßnahmen hält und wie er sich einen Weg zurück zur Normalität vorstellt, hat er den WAZ-Redakteuren Frank Stenglein und Sinan Sat im Exklusivinterview berichtet.
Herr Kufen, wann ist Ihnen persönlich klar geworden, dass Corona sich zur zentralen Herausforderung Ihrer Amtszeit entwickeln würde?
Kufen: Das war Aschermittwoch, als uns die Ergebnisse aus dem Kreis Heinsberg so richtig klar wurden - ein Ort, der anderthalb Autostunden entfernt ist. Da wusste ich, dass wird auch Essen erreichen. Ich räume ein, davor hatte ich auch gedacht, Corona ist weit weg in China. Aber als die Nachrichten und Bilder aus der Nähe kamen, war mir klar, das ist eine beispiellose Krise vor der wir stehen.
Viele dachten, es wird so schlimm nicht kommen.
Das war ein Irrtum, die Gefahr ist real. Wir beklagen in Essen jetzt schon 20 Tote. Viele hochbetagte Menschen, aber eben nicht nur. Auf den Intensivstationen gibt es auch den einen oder anderen Patienten, der jünger ist als ich mit 46 Jahren. Deshalb mussten und müssen entschieden handeln.
Das Krisenmanagement der Stadt Essen findet allgemein Anerkennung. Was macht die Stadt richtig?
Wir können jetzt auf das Zurückgreifen, was wir über die letzten Jahre aufgebaut haben, nämlich ein gutes Gesundheitsnetzwerk . Kurz nach meinem Amtsantritt habe ich das erste Gesundheitsforum einberufen, seither ist ein sehr enger Austausch gewachsen. Unser zweiter großer Vorteil sind die Strukturen, die sich im Kampf gegen die Clankriminalität gebildet haben. Die Zusammenarbeit unserer Ordnungsbehörden mit der Polizei ist geübt und exzellent. Auch davon profitieren wir jetzt, etwa wenn wir unsere Allgemeinverfügungen der Rechtsordnung mit der Kontaktsperre durchsetzen. Und wir haben von Anfang an sehr stark auf Kommunikation und Transparenz gesetzt, was mir persönlich sehr wichtig ist.
Das Thema medizinische Ressource war vielleicht noch nie so sehr im Fokus. Gleichzeitig haben wir auch in Essen die Diskussion um den Abbau von Krankenhausbetten im Stadtnorden und ob sich ein Neubau lohnt. Muss da neu gedacht werden?
Ja. Ich habe deshalb noch vor einigen Tagen nachdrücklich dafür geworben, dass dieses Momentum von der Contilia-Gruppe genutzt wird. Wenn man sagt, man kann für ein Versorgungsgebiet mit 200.000 Menschen Krankenhäuser nicht rentabel betreiben, dann muss ich sagen, ich glaube, dass man zügig ganz anders über Rentabilität von Krankenhäusern reden muss. Den Wert eines guten, stabilen Gesundheitssystems wissen wir doch genau jetzt zu schätzen. So bitter das ist, aber das sehen wir ja auch überdeutlich beim Vergleich unserer Todeszahlen zu denen anderer Länder.
Also kein Bettenabbau im Essener Norden?
Die Anzahl der Betten ist nicht das entscheidende Thema. Es geht um medizinische Exzellenz und um um Grundversorgung. Was nützt es mir, wenn ich als Patient in ein Krankenhaus um die Ecke komme und dann höre: „Oh, so einen Fall hatten wir lange nicht...“ Da fahre ich doch lieber 30 Kilometer zu einem Krankenhaus, wenn ich dort besser versorgt werde. Aber noch mal: Es wird und muss neue Überlegungen und ein Umdenken geben.
Die SPD fordert, die Stadt selbst solle Akteur werden.
Hand aufs Herz, die Stadt Essen hat null Erfahrung im Betreiben eines Krankenhauses. Ich wirke gerne mit und treibe an, um Lösungen im Sinne der Patienten und der Mitarbeiter zu erreichen. Aber dass die Stadt nun ein Krankenhaus übernimmt, ist der Sache nicht dienlich. Ich fürchte, die Stadt wäre nicht der beste Eigentümer für ein Krankenhaus. Die große Stärke liegt ohnehin im Verbund mit anderen Krankenhäusern.
Es fällt auf, dass Sie und auch Gesundheitsdezernent Peter Renzel in den Sozialen Medien sehr präsent sind zur Zeit. Nicht nur in Sachen Corona, sondern auch mit Rezeptideen unter dem Label „Kufen kocht“ etwa oder mit Ihrem neuen Podcast, in dem Sie als Interviewer auftreten.
Gerade in der aktuellen Krise erleben wir die große Wucht der Sozialen Medien im Internet. Die Bilder der leeren Supermarktregale oder die der Armeefahrzeuge in Norditalien, die die Leichen in Kolonen abtransportieren, machen Menschen Angst. Mir ist wichtig, klar zu machen, dass in der Krise nicht nur anonyme Beamte die Stadt führen, sondern an der Spitze des Krisenstabs ein Oberbürgermeister steht. Als erster Bürger dieser Stadt bin ich ansprechbar, nahbar, präsent, fühle mit, leide mit, trauere mit und freue mich über die vielen kleinen Erfolge, insbesondere mit Blick auf den Zusammenhalt in unserer Stadt.
Sie setzen also den Bildern eigenen Bilder entgegen.
Mir ist wichtig, dass wir in dieser Situation auch nach außen mit Gesichtern auftreten. Gesundheitsdezernent Peter Renzel hat seine Rolle, Ordnungsdezernent Christian Kromberg hat eine andere und ich nochmal eine andere. Wir sind ein gutes Team. Ich glaube, die Leute wollen am Ende wissen, da ist jemand, der Mensch ist und der so fühlt und tickt wie wir.
Und deshalb die Koch-Reihe?
Ich habe gespürt, es gibt auch eine Sehnsucht nach einem Themenspektrum jenseits der Corona-Situation. Und ich koche tatsächlich. Weil alle Abendtermine wegfallen, bin ich abends zu einigermaßen zivilen Zeiten zu Hause, die Corona-Krise hat meinen Lebensablauf und den meines Mannes verändert. Er isst gerne, er lobt gerne, aber kochen ist meine Sache (lacht). Die vielen Reaktionen, die ich bekomme, sind zum Teil wirklich bewegend. Ich erhalte Rezepte, da werden meine Rezepte nachgekocht…
SPD-OB-Gegenkandidat Oliver Kern deutete auf Facebook an, Sie nutzten die jetzige Lage auch für Wahlkampfzwecke.
Wissen Sie, ich mache hier meinen Job, aktuell geht es hier um Fragen von Leben und Tod. Und Krisen sind nun mal die Stunden der Exekutive, das habe nicht ich erfunden. Wenn es also sonst nichts zu kritisieren gibt, bin ich zufrieden.
Die Essener Wirtschaft hat ganz aktuell in einem Brandbrief davor gewarnt, den Shutdown noch sehr lange anzuordnen. Es drohten irreparable Schäden für den Arbeitsmarkt. Was sagen Sie?
essen- gastronomen setzen in corona-krise auf essen to go Alle Hilfspakete auf Bundes- und Landesebene sind geschnürt. Jetzt müssen wir erstmal abwarten, wie diese Maßnahmen greifen. Ich rede mit vielen, auch regelmäßig mit den Vertretern der Essener Wirtschaft. Doch genau jetzt beginnt die Phase, in der Wirtschaftsvertreter gegen Virologen antreten, die Jungen gegen die Alten, die Freiheitsliebenden gegen die eher Autoritätsgläubigen, die Gewinner der Krise gegen die Verlierer. Ich sehe auch darin meine Aufgabe, die Stadt zusammenzuhalten.
Also erst mal kein Exit aus dem Ausnahmezustand?
Wir müssen auch bereits jetzt an einem geordneten Ausstieg arbeiten. Aber nicht, indem wir jeden Tag darüber spekulieren, kommt der Exit bald oder kommt er noch nicht. Das macht die Leute kirre. Man kann von heute auf morgen das soziale Leben herunterfahren, aber man kann es nicht von jetzt auf gleich wieder hochfahren. Wenn am 20. April alle Schulen wieder öffnen würden, würde unser öffentlicher Nahverkehr zusammenbrechen, weil wir gar nicht die Kapazitäten haben, dass die Menschen ausreichend Abstand zueinander halten können. Wir brauchen einen stufenweisen Weg zurück zur Normalität. Aber das können wir nur machen, wenn sich jetzt weiterhin alle an die Regeln halten.
Was heißt das konkret, wie sähe ihr Neustart-Plan aus?
Es gibt Bereiche, die müssen relativ schnell wieder funktionieren. Ich mache mir große Sorgen über die Betreuungssituation für viele Familien. Deshalb müssten Kitas und Grundschulen mit als erstes wieder öffnen. Und Diskotheken beispielsweise kommen ganz zum Schluss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass am 21. April alle Schulen und Kitas geöffnet werden. Ich sehe eher den Mai.
Was ist mit der Wiedereröffnungserlaubnis für kleine Läden, etwa nach österreichischem Modell?
Ich finde vieles von dem, was die österreichische Regierung macht, gut und klug. Allerdings muss man auch sagen, am Anfang hat die Regierung keinen guten Job gemacht, die Hüttengaudi etwa im Ski-Ort Ischgl wurde fröhlich weitergefeiert als es längst bedrohliche Anzeichen gab. Unsere Corona-Fälle in Essen sind ja größtenteils auf Reiserückkehrer aus Österreich zurückzuführen. Was die Ladenöffnungen angeht, müssen wir natürlich aufpassen, dass wir nicht mit einer Pleitewelle aus dieser Krise rauskommen. Deshalb müssen wir Schritt für Schritt wieder öffnen, aber das funktioniert nur, wenn wir eine noch striktere Reglementierung finden, für die Menschen, die wir schützen müssen - für die Älteren und für die Menschen mit einer chronischen Erkrankung, die zuhause bleiben müssen. Denn auch wenn wir wieder langsam hochfahren, ist das Virus noch da.
An die frische Luft zu gehen ist weiterhin erlaubt, und da gibt es am Baldeneysee oft etwas Gedränge. Wäre es da nicht klüger, auch den Grugapark wieder zu öffnen, das könnte doch entzerrend wirken?
Wir waren der letzte Bezahl-Park in NRW, der geschlossen hat und wir wollen der erste Park sein, der wieder öffnet. Es wäre ein schönes Osterwunder gewesen, zu den Feiertagen wieder zu öffnen, aber das wäre nur gemeinsam mit den anderen Städten gegangen. Daher bleibt es erst mal bei der Schließung.
Was bewegt Sie besonders derzeit?
Am Mittwoch habe ich eine Trauung in meiner Funktion als Standesbeamter, da bin ich mit dem Hochzeitspaar ganz allein, nicht mal Trauzeugen sind erlaubt. Oder: Ich habe mir von Beerdigungen berichten lassen, wo nahe Verwandte nicht Abschied nehmen durften, Kinder dürfen kranke Eltern nicht im Seniorenheim besuchen. Was hier an emotionalen Verwerfungen in der Gesellschaft passiert und was das bedeutet, ist noch gar nicht abzusehen. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir zurückkommen in die Normalität.
Und auf was freuen Sie persönlich sich am meisten, nach der Krise?
Wer mich kennt weiß, dass ich die vielen Begegnungen mit den Bürgern der Stadt, den Initiativen und Vereinen sehr vermisse. Und außerdem freue ich mich darauf, wieder in den vielen guten Restaurants unserer Stadt etwas essen zu gehen.
Vielen Dank für das Gespräch.