Essen. Langwierige Behandlungen, zahllose OPs, Überlebenskampf: Julius Wyrwa (16) startete endlich ins Leben. Nun ist er Risikopatient – in Quarantäne.
Handballspielen, mit Freunden treffen und zur Schule gehen: Was für Jugendliche selbstverständlich sein sollte, war es für Julius Wyrwa viele Jahre lang nicht. Gleich nach dem Wechsel von der Grundschule zum Gymnasium bedeutete eine Tumorerkrankung für ihn vor allem Krankenhausaufenthalte, zahllose Operationen, Rückfälle und Überlebenskampf statt Kindheit. Nach dem letzten Eingriff vergangenen August ging es endlich wieder aufwärts: Der 16-Jährige startete ins Leben – das das Coronavirus nun wieder stoppt.
„Ich gehe schon eine Woche länger als meine Klassenkameraden nicht zur Schule“, erzählt der Julius, der das Steeler Carl-Humann-Gymnasium besucht. Und es gibt einen weiteren Unterschied, denn während seine Freunde noch mit ihrer Familie, allein oder zu zweit weiterhin nach draußen dürfen, bedeutet das Coronavirus für ihn strenge häusliche Quarantäne.
Balkon oder Garten fehlen jetzt besonders
In seinem Zimmer erledigt er am Computer die Schulaufgaben, Mathe nicht so gern, viel lieber Deutsch, Englisch oder Spanisch. Abwechslung bringt mal eine Serie auf Netflix, der Kontakt zu den Freunden per Whatsapp und die Brettspiele mit der Familie. „Ein Balkon oder Garten wäre schön“, sagt Julius traurig, der schon so viel Zeit in der Wohnung im dritten Stock verbracht hat, als er auf den Rollstuhl angewiesen war und nicht hinaus konnte. Nun könnte er – darf aber nicht.
„In den vergangenen Wochen habe ich die Wohnung nur einmal verlassen dürfen“, berichtet er. Der Weg führte ihn zum Arzt, mit Fieber, etwas Hals- und Bauchschmerzen. Noch viel stärker aber breitete sich die Angst aus, denn eine Infektion mit dem Coronavirus könnte für ihn rasch erneute Lebensgefahr bedeuten. Ein Test sei nicht gemacht worden. Glücklicherweise sei es letztendlich eine Grippe gewesen, das Antibiotikum habe nach drei Tagen gewirkt, sagt Julius erleichtert, der eine ähnliche Situation bereits viel dramatischer erlebte. Im Vorjahr stellten sich seine Halsschmerzen nicht als Erkältung, sondern als riesiges Wachstum seines Tumors am Kehlkopf heraus.
Vor gerade sieben Monaten kämpfte er um sein Leben
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Es ist gerade einmal sieben Monate her, dass Julius nach einem Rückfall und einer weiteren Operation um sein Leben kämpfte. Die Quarantäne empfahl sein behandelnder Arzt im Münsteraner Universitätsklinikum daher jetzt dringend. Für den 16-Jährigen war das keine Überraschung, ein Gendefekt („den habe ich seit meiner Geburt“) und die Tumorerkrankung machen eine Behandlung mit Medikamenten notwendig, die sein Immunsystem schwächen.
Dabei gibt es für das, was seinen Kehlkopf befällt und ihm mitunter die Luft nimmt, keine Diagnose. Diese existiert selbst nach jahrelangen Behandlungen in insgesamt vier Universitätskliniken und mit vielen Fachärzten auch aus der Immunologie und Rheumatologie nicht. Fest steht, dass die Familie in der Schweiz Spezialisten fand, die ihren Sohn und Bruder bereits zweimal operiert und ihm damit das Leben gerettet haben – zuletzt im August.
Nach dem Handballtraining folgten wieder erste Spiele
Eine Prognose gibt es weiterhin nicht, aber Hoffnung, die die Familie nach so vielen Höhen und Tiefen verbindet. Ist die Zukunft auch ungewiss („wir reagieren auf das, was kommt“), so ging es Julius nach der Rückkehr vergangenen Sommer aus Lausanne doch stetig besser. Er kehrte nicht nur in die Schule zurück, sondern auch aufs Spielfeld. Der begeisterte Handballer der DJK Winfried Huttrop trainierte erst, bevor Einsätze bei Spielen folgten - und Siege.
„Dabei bedeutet Handball nicht nur, mit dem Ball aufs Tor zu werfen“: Für Julius ist dieser Sport schon deshalb viel mehr, weil seine Kameraden und Trainer ihn durch schwere Zeiten begleitet haben. Sie haben nicht nur mit Spendenaktionen geholfen, damit seine Familie ihn zur Behandlung in die Schweiz begleiten kann, sondern sind längst enge Vertrauenspersonen für den Jugendlichen geworden.
Julius berichtete über Rettungswagen für Infektions-Erkrankte
Familie sucht weiter nach passender Wohnung
Familie Wyrwa lebt derzeit in Kray und sucht bereits seit geraumer Zeit nach einer neuen Wohnung oder einem Haus zur Miete. Die Suche ist nun zudem wegen der Corona-Krise erschwert, sie hoffen spätestens danach, eine passende Bleibe zu finden.
Die jetzige Wohnung im dritten Geschoss bedeutete etwa sehr schwierige Bedingungen in der langen Phase, als Julius auf einen Rollstuhl angewiesen gewesen ist. In der aktuellen Situation, wo beide Söhne das Haus nicht verlassen dürfen, vermissen sie einen Balkon oder Garten umso mehr.
Abseits von Unterricht und Sport machte Julius zuletzt sein Schülerpraktikum in der Lokalredaktion. Er war es, der im Januar noch über die Vorbereitungen der Feuerwehr auf erste Patienten aus Asien und den dafür bereit stehenden Rettungswagen für Infektions-Erkrankte berichtete. Da breitete sich das Coronavirus gerade in China aus, erschien nicht nur dem Schüler unglaublich weit weg: „Ich habe nicht damit gerechnet, dass es Europa, Deutschland und Essen so schnell erreicht.“
Gedanken hat Julius sich aber sogleich gemacht, Sorgen auch. „Ich wusste von Anfang an, dass es mich betreffen wird“, sagt der 16-Jährige nun aus der Quarantäne. Die gilt für seinen kleinen Bruder Louis, der eine Krebserkrankung überstanden hat, ebenso. Die Eltern minimieren das Risiko weitestgehend, verlassen die Wohnung zum Einkaufen.
Sanitätshaus schickt Pakete - Mundschutz und Desinfektionsmittel fehlen
„Wir erhalten vom Sanitätshaus Pakete mit allem Notwendigen“, sagt Julius. Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken seien in den letzten beiden Kartons allerdings nicht mehr gewesen. Wütend mache es ihn aber nicht, wenn andere Menschen jetzt vermehrt zu diesen Artikeln greifen: „Ich kann doch nicht beurteilen, ob sie diese tatsächlich brauchen.“ Nur benötigten gefährdete Personen und deren Angehörige wie in seinem Fall Mundschutz und Desinfektion dringender. Noch haben sie Reserven, „aber eigentlich sollten auch Apotheker diese für Risikopatienten haben“.
Julius informiert sich jeden Tag über das, was die Corona-Krise in den Ländern und in seiner Stadt anrichtet. Bis dahin bleiben sein Zimmer und die Wohnung seine kleine Welt. Gäbe es eine Skala für Langeweile von eins bis zehn, für ihn wären sieben bereits erreicht, sagt der Jugendliche. Die Freunde fehlen ihm, er vermisst den Sport. Ein wenig Training ist auf dem Dachboden möglich, seine drei Katzen freuen sich über Aufmerksamkeit.
Beengte Situation zerrt manchmal an den Nerven
Eine Freude macht die Mutter ihnen mit Lieblingsgerichten. „Manchmal gehen wir uns dennoch ordentlich auf die Nerven“, gesteht Julius augenzwinkernd zum Familienleben. Denn selbst diese derzeit beengte Situation wird an ihrem Zusammenhalt nichts ändern. Dafür haben sie schon viel zu viel miteinander durchgemacht, sich getröstet und gestützt.
Die Phase der Quarantäne unterscheidet sich nun jedoch deutlich von dem Lebensabschnitt, als der Schüler so schwach war und die Schmerzen so heftig waren, dass er weder Klinik noch Wohnung und oftmals nicht einmal das Bett verlassen konnte. Augenblicke der Hilflosigkeit und Verzweiflung sind längst seiner Hoffnung und neuem Mut gewichen – auf ein ganz normales Leben. Und muss sein Start in dieses nun eine weitere Pause einlegen, bleibt Julius zuversichtlich: „Denn es geht mir jetzt gut.“
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