Essen. Eine ganze Familie ist krank, die Tochter war auf Klassenfahrt in Tirol. Auf Corona werden sie nicht getestet. Die Stadt erklärt, warum nicht.
Patrick K. (*Name der Redaktion bekannt) ist wütend. Der Familienvater war fast zwei Wochen krank – Kopf und Gliederschmerzen, Husten, Schnupfen und erhöhte Körpertemperatur. Noch dazu war seine 12-jährige Tochter auf Klassenfahrt im Risikogebiet Tirol in Österreich und kam mit leichten Symptomen zurück. Doch beide werden nicht auf das Coronavirus getestet – genauso wenig wie der Rest der Familie.
„Mittlerweile liegt fast die ganze Familie flach“, schildert K. Nur der 16-jährigen Tochter gehe es noch gut. Der 18-jährige Sohn und der 4-jährige Pflegesohn hingegen zeigten seit einigen Tagen leichte Symptome. Das sei vor allem aufgrund der Vorerkrankungen der beiden problematisch: Der 18-Jährige hat Morbus Crohn, der 4-Jährige ist nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und hat eine Vorschädigung der Lunge.
Getestet wird nur, wer in einem Risikogebiet war oder Kontakt mit Infizierten hatte
Obwohl fast die ganze Familie krank ist, habe das Gesundheitsamt lediglich eine freiwillige Quarantäne empfohlen. In der Tat testet das Lagezentrum untere Gesundheitsbehörde (LZuGB) der Stadt nicht jeden, der Symptome hat. Individuelle Fragen zu Tests werden zunächst mit dem Bürgertelefon der Stadt besprochen. „Getestet werden in erster Linie Menschen, die aus Risikogebieten zurückkehren oder Kontakt zu Infizierten hatten und gleichzeitig Symptome zeigen“, erklärt Stadtsprecherin Jasmin Trilling.
„Wir beproben unheimlich viele Menschen“, so Trilling. Bisher habe man circa 1700 Proben auf das Virus untersucht. Aufgrund begrenzter Kapazitäten sei es nicht möglich, etwa alle unter Quarantäne gestellte Menschen zu testen – in vielen Fällen sei es aber auch nicht sinnvoll. Die Stadtsprecherin wies darauf hin, dass momentan auch Grippe- und Erkältungszeit sei.
Tochter der Familie war auf Klassenfahrt in Tirol – im selben Hotel wie zwei Infizierte
Wissentlich direkten Kontakt mit Infizierten hatte Patrick K. in der Tat nicht. Allerdings arbeitet er in Oberhausen als Busfahrer und hat so zwangsläufig mit vielen Menschen zu tun: „Ich weiß ja nicht, wer mich da anhustet.“
Durch ihren Tirol-Aufenthalt gehört jedoch K.s 12-jährige Tochter sicher zur Gruppe der Risikogebiet-Rückkehrer. Noch dazu ist die Familie vom Reiseveranstalter darüber informiert worden, dass sich im selben Hotel, in dem ihre Tochter untergebracht war, eine Schulklasse aus Köln mit zwei Infizierten befunden hat.
Nach längerem Hin und Her mit Bürgertelefon und Gesundheitsamt kontaktierte der Sanitätsdienst der Feuerwehr K. Man habe ihm mitgeteilt, dass es zwar durchaus möglich sei, dass die Familie mit dem Coronavirus infiziert sei. Dennoch teste man sie nicht: „Die Begründung war, dass unsere 12-jährige Tochter nur leichte Symptome habe. Außerdem seien wir ja schon länger krank und hätten die schlimmste Phase hinter uns.“
Stadtsprecherin Silke Lenz erklärt auf Nachfrage, die Aussagen eines Mitarbeiters des Sanitätsdienstes könnten aus der Ferne nicht nachvollzogen werden. Eine rein klinische Diagnostik sei bei Coronaviren aber grundsätzlich nicht durchführbar: "Bei leichter Symptomatik und wenn die Familie in einer freiwilliger Quarantäne ist, ist eine Testung nicht aussagekräftig. Da die Familie bereits in Quarantäne ist, besteht keine Gefahr, dass die Patientin das Virus weiter gegeben haben könnte."
„Ich frage mich, ob man da wirklich eine Ferndiagnose übers Telefon machen kann“
Eine ähnliche Erfahrung hat Tanja Brombach gemacht. Ihre 12-jährige Tochter war gemeinsam mit K.s Tochter auf Klassenfahrt und kam mit laufender Nase und Halskratzen zurück. Seitens der Stadt habe sie sich anschließend nicht ernstgenommen gefühlt, sagt Brombach: „Man fragte mich, ob meine Tochter denn die Infizierten aus Köln umarmt habe.“
Als sie verneinte, habe man ihr gesagt, ihre Tochter solle 14 Tage zu Hause bleiben, leide aber wahrscheinlich nur unter einer Erkältung. „Ich frage mich, ob man da wirklich eine Ferndiagnose übers Telefon machen kann“, sagt Brombach verärgert.
Quarantäne kann nur durch das Gesundheitsamt angeordnet werden
Ähnliche Erfahrungen schilderten in den vergangenen Tagen mehrere WAZ-Leser der Redaktion. Sie berichteten, sich mit Symptomen alleine gelassen zu fühlen. Einige klagten auch über das Fehlen einer konkreten Ansage der Stadt, etwa durch Anordnung einer Quarantäne.
Stadtsprecherin Lenz erklärte dazu: "Eine Quarantäne kann nur durch das Gesundheitsamt angeordnet werden." Da eine Quarantäne ein empfindlicher Eingriff in die Persönlichkeitsrechte sei, erfolge die Anordnung nur basierend auf der Rechtsgrundlage, dass Patienten als Verdachtsfälle eingestuft würden. Dies sei bei Familie K. beispielsweise nicht der Fall.
Gesundheitsamt differenziert bei Testfrage nach Symptomen
Wie Lenz erklärte, werden bei der Testfrage tatsächlich noch weitere Unterscheidungen gemacht: "In den Gesprächen mit der Bürger-Hotline, vor allem aber mit den Kollegen des Gesundheitsamtes, werden detailliert die Symptome abgefragt", so Lenz.
Bei der Angabe der Symptome werde entsprechend differenziert nach Schwere und vor allem danach, ob mehrere unterschiedliche Symptome auftreten. Darüber hinaus würden Vorerkrankungen abgefragt, was besonders bei älteren Personen eine wichtige Rolle spiele.
Ohne negatives Testergebnis darf die Familie nicht in die Kinderarzt-Praxis
Ein großes Problem der Familie K.: Ohne negatives Testergebnis dürfen sie nicht mit ihrem Pflegesohn zur Kinderärztin, um andere Patienten in der Praxis nicht zu gefährden. Zum Glück gehe es dem 4-Jährigen den Umständen entsprechend gut und er habe nur leichte Symptome.
K.s eigene Krankschreibung ist derweil ausgelaufen. Sein Hausarzt hat ihn gebeten, aufgrund der Infektionsgefahr nicht in die Praxis zu kommen, und ihn wieder ans Gesundheitsamt verwiesen - das ihn immer noch nicht testet. So muss der Essener seit Montag wieder zur Arbeit. Als Busfahrer im ÖPNV.
Stadtsprecherin Lenz sagte dazu: "Es gibt keinen Anlass für den Hausarzt, den Menschen nicht in seine Praxis kommen zu lassen. Aus Sicht des Gesundheitsamtes besteht kein Corona-Verdacht, daher wird er nicht untersucht und kann nach Genesung seiner Tätigkeit nachkommen"
Bürgertelefon der Stadt Essen ist täglich erreichbar
Das Bürgertelefon der Stadt ist täglich von 8 bis 18 Uhr unter der Rufnummer 0201 123-8888 für Fragen zum Coronavirus erreichbar. Insbesondere Rückkehrer aus Risikogebieten sind angehalten, sich sofort dort zu melden, damit das Gesundheitsamt informiert wird und gegebenenfalls weitere Maßnahmen ergreifen kann.
Zu den Risikogebieten zählt das Robert-Koch-Institut zurzeit Italien, den Iran, Ägypten, die Provinz Hubei (inklusive der Stadt Wuhan) in China, die Provinz Gyeongsangbuk-do (Nord-Gyeongsang) in Südkorea, die Region Grand Est (mit dem Elsass, Lothringen und Champagne-Ardenne) in Frankreich, das Bundesland Tirol in Österreich, die Stadt Madrid in Spanien und die Bundesstaaten Kalifornien, Washington und New York in den USA.
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