Bochum. Vor zwei Jahren wog Carina Vogt 140 Kilo, heute sind es noch 72. Mit jedem Pfund, das sie verlor, habe sie gewonnen, sagt die Krankenschwester.

Carina Vogt trägt Kleidergröße 36. Und Boots mit Schnürsenkeln! Die sie auf einem Bein balancierend zubindet. Kein Problem, wenn man so schlank und fit ist wie die 30-Jährige aus Wattenscheid. Silvester 2017 allerdings, da wog Carina Vogt noch 136 Kilo bei einer Größe von 1,64 Metern. Und das war nicht einmal ihr Höchstgewicht: Im September davor brachte die Krankenschwester 140 Kilo auf die Waage und quetschte sich in Größe 56. Carina Vogt hat sich seither fast halbiert, heute wiegt sie 72 Kilo. „War gar nicht so schwer, ich wollte es“, sagt sie.

Die alte Lieblingshose: Sie passt wohl nicht mehr….
Die alte Lieblingshose: Sie passt wohl nicht mehr…. © FUNKE Foto Services | MATTHIAS GRABEN

„Als Mädchen“, erzählt Carina Vogt, „war ich dünn“. Aber irgendwie sei sie dann „von Kindergröße 156 direkt zu XXL-Klamotten“ gewechselt. Ihr Elternhaus in Wanne-Eickel – sie war das vierte von sechs Geschwistern – erinnert sie als lieblos, auf den Tisch kamen „im besten Fall“ Fertiggerichte. Gemüse habe die Mutter nie gekauft, Obst nur einmal im Jahr: „Weihnachten gab’s Clementinen!“ Der verschlossene Schrank mit den Süßigkeiten darin, „das war meiner“, sagt Vogt. Der Schlüssel lag in der Schublade daneben. „Immer wenn ich allein war, und ich war viel allein, stopfte ich Schokolade in mich rein, am liebsten weiße.“

„Das Essen war mein Seelentröster“

Mit 21 zog sie mit ihrem späteren Mann zusammen. Kochen konnte sie nicht. „Es gab nur Dosenfutter.“ Und wieder war sie viel allein, der Mann arbeitete wie sie im Pflege-Schichtdienst, man sah sich nur selten. Wieder tröstete sie sich mit Essen. Auf 6000 Kalorien am Tag kam sie damals, hat sie mal nachgerechnet. Schuhe zu schnüren war ihr unmöglich. Auf Gartenpartys blieb sie stehen, bis eine Bank frei wurde, die nicht unter ihr zusammenbrechen würde. Flugreisen mied sie ganz, aus Angst, dem Sitznachbarn die Luft zum Atmen zu Nehmen. Vogts BMI stieg auf 52, die Knie taten ihr weh, der Rücken schmerzte. „Das viele Essen ging auch richtig ins Geld, aber mir war das egal. Es war mein Seelentröster.“

Dann kam Tochter Fabienne Louisa zur Welt. Und bei einem Ausflug an den Dortmunder Phoenixsee im September 2017 erlebte die junge, alleinerziehende Mutter – kurz zuvor hatte sie sich von ihrem Mann getrennt – dann den einen Moment, der ihr Leben ändern sollte.

„Fabienne wollte aufs Klettergerüst. Aber als sie oben in luftiger Höhe angekommen war, wusste sie nicht weiter, fing furchtbar an zu weinen.“ Und sie, die Mutter, stand unten und weinte ebenfalls bitterlich: Ein peinlicher Versuch zum Kind zu gelangen, scheiterte bereits an der ersten Etage. Ein fremder Mann rettete es schließlich. „Das hat mir so weh getan“, erinnert sich Vogt. „Ich stand da mit meiner Masse und konnte meinem Kind nicht helfen. Da wusste ich, ich muss etwas ändern.“

Joghurt schmeckt nicht? Mit püriertem Obst schon

Noch am selben Tag besuchte sie ihren Hausarzt, bat ihn um Rat. Das Gespräch eröffnete sie mit den Worten: „Ich bin zu fett, was kann ich tun!“ Am Mittwoch darauf nahm sich der Arzt dreieinhalb Stunden Zeit, ging mit seiner Patientin alle Lebensmittel durch, erzählte ihr von verstecktem Zucker, guten und schlechten Ölen, den Folgen von zuviel Kohlenhydraten. „Vieles davon wusste ich, aber ich wollte es nicht wahrhaben, bis dahin“, sagt Vogt. Nun konnte sie es nicht länger verdrängen.

Daheim wanderten alle „Dickmacher“ in eine Mülltüte. Dann gingen Mutter und Tochter einkaufen. Nicht im Discounter wie früher, sondern erstmals auf dem Wattenscheider Markt. Quark, Eier, Naturjoghurt, Gemüse und Obst wanderten in den Korb: „Selbst mir damals völlig Unbekanntes wie Mango oder Kaki“, erzählt Carina Vogt. „Wir haben alles probiert.“ Manches, räumt sie ein, schmeckte nicht auf Anhieb. Joghurt etwa. Aber sie lernte rasch: „Mit püriertem Obst ist der leckerer.“ Süßigkeiten und Weißmehl verbannte die Krankenschwester komplett von ihrem Speiseplan. Limo ersetzte sie durch Wasser. Später legte sie sich eine Yogamatte zu und lud Workouts auf ihr Handy. Nachts, wenn sie wieder nicht schlafen konnte, trieb sie Sport. 10.000 Schritte, nahm sie sich zudem vor, wollte sie jeden Tag laufen. Zusätzlich zu den 30.000, die sie in jeder Schicht zurücklegte. „Daran war der Körper ja gewohnt.

Am schwierigsten war, das erste Weihnachten zu meistern

Krasser Unterschied; Carina Vogt 2017 und heute.
Krasser Unterschied; Carina Vogt 2017 und heute. © Fotos: privat/Graben. MOntage:

Der Erfolg zeigte sich rasch, die ersten zehn Kilo verschwanden innerhalb einer Woche. „Alles Wasser“, weiß sie heute. Gefreut habe sie sich trotzdem darüber. Für jede fünf Kilo, die sie verlor, versprach sie sich ein neues Piercing. Als sie 25 erreicht hatte, setzte sie sich neue Ziele: Für die Hochzeit der Cousine etwa kaufte sie ein Kleid, zwei Nummern zu klein. Am Festtag passte es. Regelmäßig begeisterte sie ihren Arzt mit ihren Blutwerten. „Sie verbesserten sich dramatisch“.

Die Kolleginnen im Martin-Luther-Krankenhaus unterstützten Carina Vogt nach Kräften. Die Krankenschwester arbeitet auf der Orthopädie-Station: Hier weiß man, welche Last zuviel Gewicht bedeutet. Andere boykottierten die Abnahme: Iss doch endlich mal Richtiges, tobte etwa der Schwiegervater, als Carina im Restaurant wieder nur Salat bestellte. Sie ließ sich nicht beirren, auch nicht als die Waage einmal zwei Monate lang nur Stillstand verzeichnete. „Für mich war der Weg klar“, sagt sie heute. „Und auch wenn er nicht einfach war: Das Ziel stand.“ Am schwierigsten zu meistern sei das erste Weihnachten gewesen. Nicht das Fest selbst, „aber der Weihnachtsmarkt davor“. Inzwischen weiß sie: Ein Bummel macht auch Spaß, „wenn man nicht an jedem Stand etwas zu essen kauft“.

Bratkartoffeln lassen sich auch aus Pastinaken machen

Kalorien hat Carina Vogt während ihrer Abnahme nie gezählt, „nur geschätzt“. Salat steht noch heute täglich auf dem Tisch und in der Küche stets klein geschnibbeltes Obst bereit. Sie esse „ganz normal“, sagt Vogt. Nur, dass ihre Bratkartoffeln meist aus Pastinaken gemacht sind, die Nudeln aus Zucchini und dass statt Sahne halt saure Sahne in die Soße kommt. Und die Plätzchen für den Adventsteller, die hat sie aus Dinkelmehl gebacken. Zum Sport muss sie sich längst nicht mehr zwingen, in der Bochumer „Fitbox“ trainiert sie heute regelmäßig und sehr gern, sogar das Joggen hat sie angefangen.

Und trotzdem brachte Fabienne sie jüngst doch wieder zum Weinen. Als sie ihr ein Foto schenkte, das Mama und Tochter im Sommer im Garten einer Freundin zeigt. Ein tolles Bild. Doch als Carina Vogts Tochter es sah, flossen die Tränen beim Kind. „Gefällt es dir nicht?“, fragte die Mutter erstaunt. „Doch“, schluchzte Fabienne. „Es ist nur unser erstes Foto!“ Tatsächlich fand sich bis dahin unter all den vielen Bildern an Vogts Wänden nicht eines, auf dem sie selbst zu sehen war. Zu sehr hatte sie sich immer für ihr Aussehen geschämt.

Mit jedem verlorenen Pfund Lebensfreude gewonnen

Heute ist sie stolz. Auf ihr Aussehen und auf das, was sie erreicht hat. Mit jedem Pfund, das sie verlor, habe sie gewonnen, sagt Carina Vogt: Lebensfreude. Missen will sie das nie wieder. Fürs Neue Jahr fasst sie darum erneut zwei Vorsätze: Einen Fünf-Kilometer-Lauf will sie 2020 absolvieren und zwei weitere Kilo abspecken. Und die 70 dann nie mehr überschreiten.

Jenes Klettergerüst am Phoenixsee, das hat Carina Vogt inzwischen ja längst erklommen. Mühelos.

>>>>Info: Ganz ohne OP ging es nicht

Mehr als 69 Kilo hat Carina Vogt insgesamt abgenommen. Ihrer Haut, sagt sie, habe dabei natürlich gelitten.

Die Kasse bezahlte zwei Hautstraffungs-Operationen. Die letzte, für den Bauch, hat sie gerade erst überstanden. „Nun ist er perfekt“, sagt die 30-Jährige. „Ich hab endlich wieder einen Nabel!“