Essen. Essener Schüler haben die Geschichten von NS-Opfern aus der Stadt recherchiert. Mit einer Ausstellung im Stadtarchiv stellen sie ihre Arbeit vor.
Wenn die letzten Zeitzeugen des Nationalsozialismus sterben, dann müssen beredte Orte an ihre Stelle treten. So formuliert es der Historiker Thomas Hammacher, der seit vier Jahren mit Essener Schülern zur NS-Zeit recherchiert. „Wenn nur noch Steine bleiben“, heißt die Ausstellung, die bis Mai im Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv gezeigt wird und die kein Schlusspunkt, sondern ein Zwischenbericht ihrer Arbeit sein soll.
Ausgangspunkt waren Gedenkanlagen auf drei Essener Friedhöfen, die Ende der 1950er Jahre entstanden sind: 52 Opfer sind an der zentralen Gedenkstätte am Parkfriedhof beigesetzt, 20 auf dem Gräberfeld auf dem Südwestfriedhof und zehn auf dem Terrassenfriedhof. Jene Steine, die da symmetrisch im Friedhofsgrün angeordnet sind, geben der Ausstellung den Titel: Steine, die nun zum Sprechen gebracht werden sollen.
„Wir konnten 49 der Steine wieder ein Gesicht geben“
Darum haben Schüler von Unesco-Schule, Burg- und Viktoria-Gymnasien gefragt, wer diese 82 Essener waren, die in der NS-Zeit aus der Gesellschaft ausgestoßen und zwischen 1938 und 1945 in Konzentrationslagern getötet wurden. „49 der Steine konnte bisher ein Gesicht gegeben werden“, heißt es im Flyer zur Schau.
Es sind die Gesichter „vergessener“ Opfergruppen, die in der Erinnerungskultur nicht allein zahlenmäßig hinter dem Schicksal der europäischen Juden zurücktreten. Vielfach blieben sie auch nach Kriegende stigmatisiert oder wurden (zunächst) nicht als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung anerkannt: Etwa die von den Nazis als „Berufsverbrecher“ oder „Asoziale“ gebrandmarkten Menschen sowie Sinti und Roma, Homosexuelle oder Euthanasie-Opfer.
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In ihren Biographien fänden sich oft Anknüpfungspunkte für die Schüler, eine Nähe zu ihrer heutigen Lebenswirklichkeit, sagt Hammacher. Das gelte auch für zugewanderte Jugendliche, die zum Teil Flucht und Vertreibung erlebt hätten, ergänzt Klaus Kirstein, der am Unesco-Gymnasium unterrichtet. Umgekehrt kämpften die Nachkommen dieser NS-Opfer oft nicht nur mit dem Verlust, sondern auch mit dem bleibenden Stigma. Eine Kontaktaufnahme sei daher heikel und könne neuen Schmerz auslösen.
Der Deserteur galt auch nach dem Krieg vielen als Vaterlandsverräter
Immerhin gebe es Kontakt zu zwei Familien, „aber auf viele unserer Anfragen bekommen wir keine Antwort.“ Wofür Historiker Hammacher Verständnis hat: „Auch mein Großvater liegt da – er war Deserteur.“ Also einer jener Wehrmachtssoldaten, die noch lange nach dem Krieg nicht als Helden galten, sondern als Vaterlandsverräter.
Die Ausstellung im Stadtarchiv holt die Vergessenen nun in die Gesellschaft zurück: „Wer sind wir?, Wo leben wir?, Wohin bringt Ihr uns?“, sind die Leitfragen, mit denen die Wände beschriftet sind. Darunter wird von diesen Essenern erzählt, von denen viele im damaligen Arbeiter- und Nachtjackenviertel Segeroth wohnten. Einige Lebensdaten gibt es und wenige Fotos; schließlich wird ihr Weg in die Vernichtungslager nachgezeichnet.
Gedenkanlage am Parkfriedhof soll zeitgemäß gestaltet werden
In Orange und Grau ist diese Ausstellung gehalten: Von der Decke hängen Zettel, die den Meldekarten in den KZ nachempfunden ist; auf silbernen Stellwänden wird erklärt, wer in den Fokus des NS-Vernichtungswahns geriet. „Wir haben uns gefragt, wie wir einem so alten wie ernsten Thema eine moderne Gestaltung geben“, erklärt Sidney Barth, der gemeinsam mit 16 Mitschülern vom Berufskolleg Ost die Schau gestaltet hat. „Wie geht man mit den Themen um, wie mit den Materialien, wie gibt man einer Ausstellung ein Gesicht“, all das sei Neuland gewesen, verrät Mitschülerin Luisa Schönewald.
Das Ergebnis begeistert bei der Vorbesichtigung Stadtarchiv-Leiterin Claudia Kauertz ebenso wie Kulturdezernent Muchtar Al Ghusain, der sich nun auch für die Grabanlagen eine zeitgemäße Gestaltung erhofft, die auch junge Menschen anspreche. Thomas Hammacher und seine jungen Mitstreiter haben das für den Parkfriedhof bereits im Auge. Angefangen mit der Stele, auf der es heißt „Hier ruhen 52 Essener Bürger, die von 1933-1945 in Konzentrationslagern verstorben sind.“
Für den Flyer zur Ausstellung haben sie ein Foto der Stele gewählt und das Wort „verstorben“ mit einem dicken Strich aus der Spraydose durchgestrichen. „Ermordet worden“ müsste da stehen.