Essen. . Sally Perel, der mit dem Buch „Ich war Hitlerjunge Salomon“ bekannt wurde, ist mit 93 Jahren noch ausgebucht. Hier spricht er über seine Mission.

Er hat fast seine ganze Familie im Holocaust verloren und selbst nur überlebt, weil er seine jüdische Identität leugnete: Sally Perel gab sich im Zweiten Weltkrieg als Hitlerjunge aus und wundert sich bis heute, dass ihn das nicht schizophren gemacht hat. Seine Biografie wurde zu Bestseller und Erfolgsfilm, seine Auftritte an deutschen Schulen sind bis 2020 ausgebucht. Im Interview spricht Sally Perel (93), der jetzt das Unesco-Gymnasium besuchte, über Jugendliche, die seine Facebook-Freunde werden möchten, und über aufkeimenden Neonazismus.

Herr Perel, Ihr Anfang der 1990er Jahre erschienenes Buch „Ich war Hitlerjunge Salomon“ hat Sie weltbekannt gemacht. Warum haben Sie Ihre Geschichte zuvor vier Jahrzehnte lang verschwiegen?

Als ich nach dem Krieg nach Israel kam, wollte ich dort erstmal ein neues Leben aufbauen, da habe ich die Vergangenheit verdrängt. Auch weil mich Fragen quälten wie: Bin ich Opfer, bin ich Täter, bin ich Jude, bin ich Nazi? Selbst meine Kinder haben meine Geschichte erst erfahren, als ich sie aufschrieb. Mein jüngerer Sohn fragte damals, warum ich das denn nicht früher erzählt hätte. Für ihn war klar: „Papa, Du bist ein Held!“

„So bekommt mein Überleben einen Sinn“

Was gab denn den Anstoß, Ihre unglaubliche Jugend aufzuschreiben?

Ich bin 1985 erstmals wieder nach Deutschland gereist. Meine Geburtsstadt Peine hatte mich zur Einweihung eines Mahnmals eingeladen, und ich habe nicht gezögert zu kommen. Dadurch habe ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandergesetzt, und so setzte die Einladung nach Peine den ganzen Schneeball in Bewegung...

...das Buch, den Film und Ihre Reisen nach Deutschland. Mit 93 sind sie immer noch viel unterwegs.

Nun, ich bin einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen, und es gibt eine Warteliste für meine Lesungen an Schulen. Erst im September war ich in Braunschweig, wo man eine Gesamtschule nach mir benannt hat. Durch solche Begegnungen bekommt mein Überleben einen Sinn. Ich erzähle ja nicht nur meine Geschichte – ich möchte, dass die jungen Menschen sie an ihre Kinder und Enkel weitergeben, das ist mein Auftrag an sie.

„Ich bin nicht unterwegs, um Schuldgefühle zu wecken“

Was berührt Sie am meisten, wenn Sie mit den Schülern sprechen?

Es kommen oft Jugendliche, vor allem Mädchen, mit Tränen in den Augen und sagen: „Bitte, verzeihen Sie uns!“ Das bewegt mich sehr, aber ich sage immer, dass ich ihnen nicht verzeihen kann: „Ihr seid nicht schuldig, Schuld erbt man nicht!“ Ich bin nicht unterwegs, um Schuldgefühle zu wecken.

Sondern?

Ich habe als Hitlerjunge selbst erlebt, wie junge Menschen manipuliert und zu Hass erzogen wurden. Sogar ich als Jude bin damals in völkisches Denken verfallen. Darum fordere ich die Schüler zu kritischem Denken auf. Ich möchte sie widerstandsfähiger machen gegen Fremdenfeindlichkeit und aufkeimenden Neonazismus. Die aktuelle Entwicklung in Deutschland enttäuscht mich. Aber sollten meine Auftritte helfen, dass sich nur ein einziger Schüler aus der braunen Szene löst, wäre meine Mission schon erfüllt.

„Oft wollen Schüler meine Facebook-Freunde werden“

Welche Mission haben Sie für Ihre israelische Heimat?

Ich wünsche mir ein Ende der Besatzungspolitik und einen gerechten Frieden: Zwei Länder für zwei Völker; ein palästinensischer Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt.

Sie sagen, Sie haben bis heute Alpträume, trotzdem bringen Sie die Schüler auch zum Lachen. Wie treffen Sie diesen leichten Ton?

Ich liebe Humor, er ist für mich auch ein Selbstschutz. Und diese Lesungen sind auch ein Vergnügen: Während andere in meinem Alter in ihrem Opasessel sitzen und Kreuzworträtsel machen, bin ich unterwegs. Mit 93 noch so gefragt zu sein, das stärkt schon. Nach der heutigen Lesung wollen bestimmt wieder 50, 60 Schüler meine Facebook-Freunde werden.

>>> ER WAR DER HITLERJUNGE SALOMON

Sally (Salomon) Perel wird 1925 in Peine als Sohn eines Rabbiners geboren. 1935 verwüsten die Nazis das Schuhgeschäft der Familie, die darauf ins polnische Lodz flieht. Als die deutsche Wehrmacht Polen 1939 überfällt, schicken die Eltern Salomon Richtung Sowjetunion.

Er ist 16 und schon lange auf der Flucht, als er 1941 von den Nazis gefasst wird. Salomon wirft seine Papiere weg und nimmt eine neue Identität an: Als Jupp Perjell wird er das jüngste Mitglied der Wehrmacht, lebt mit den Soldaten an der Ostfront, dient ihnen als Dolmetscher. 1943 schickt ihn sein Hauptmann, der ihn adoptieren will, auf ein Internat der Hitlerjugend in Braunschweig. Perel überlebt.

Nach dem Krieg geht Perel nach Israel, um den jüdischen Staat mitaufzubauen. Gut 40 Jahre spricht er nicht über sein Schicksal, dann schreibt er seine Erinnerungen auf, die hierzulande 1992 unter dem Titel „Ich war Hitlerjunge Salomon“ erscheinen und verfilmt werden.

Seither kommt Perel regelmäßig an deutsche Schulen, findet dort einen so lebhaften wie berührenden Ton. Am Montag war er am Unesco-Aufbau-Gymnasium, wo ihm in der voll besetzten Aula auch Schüler des Viktoria-Gymnasiums zuhörten. Da berichtet Perel, wie er als Hitlerjunge stets fürchtete, jemand könnte bemerken, „dass ich beschnitten bin“. Viel List und Lüge habe er gebraucht: „Man darf lügen, wenn es ums Überleben geht!“

Todesangst, Trauer um die Familie, das Grauen, das er im Ghetto sieht – diese Geschichtsstunde wird keiner der Zuhörer vergessen