Essen. Die Beginenhöfe gelten als Vorläufer moderner Frauen-WGs. In ihrer Doktorarbeit gleicht eine Essenerin Mythos und mittelalterliche Realität ab.

Die mittelalterlichen Beginen sind heute Vorbild für Lebensgemeinschaften von Frauen. Sie werden als frühe Emanzipationsbewegung gefeiert, die sich gegen patriarchale Strukturen stemmte und unabhängig lebte. Doch der feministische Blick auf die frommen Frauen sei überstrapaziert, sagt die Essenerin Petra Bernicke. Sie hat eine Doktorarbeit zu den Beginen in Essen vorgelegt und sagt: „Ich orientiere mich nicht an einem Ideal, sondern an historischen Fakten.“

Die 60-Jährige ist eine spätberufene Wissenschaftlerin: Nach dem Realschulabschluss machte sie erst Ausbildungen zur Arzthelferin und zur Erzieherin, bekam dann zwei Kinder. Spät holte sie auf dem Nikolaus-Groß-Abendgymnasium das Abi nach. Geschafft habe sie es nur, weil ihre Mutter oftmals die Kinder betreute.

Manche Archive blieben ihr verschlossen

„Nach dem Abi fiel ich in ein tiefes Loch, fragte mich: ,Was jetzt?‘.“ Bald begann sie an der Ruhr-Uni Bochum ein Studium – Geschichte, Anglistik, Historische Hilfswissenschaften –, das sie als tolle Zeit in Erinnerung hat. Sie begeistert sich für den akademischen Disput, liefert sich mit einem „coolen Dozenten“ Wortgefechte.

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Folgerichtig war nach dem Magister nicht Schluss: Bernicke schlug ihrem Doktorvater Thomas Schilp vor, zu den Beginen in Essen zu forschen. Er stimmte zu, warnte aber, zu dem Thema gebe es fast nichts. „Außer ein paar Staatsexamensarbeiten und einem Aufsatz von 1886 lag tatsächlich wenig vor.“ Sie schnappte sich den fast 140 Jahre alten Aufsatz von Julius Heidemann, suchte nach Hinweisen auf Quellen, spürte manche auf, stellte bei anderen fest, dass sie nicht mehr zugänglich sind. Oder, dass Archive verschlossen blieben.

„Das ist wie wenn ein Archäologe eine Mumie findet“

Die Bekanntschaft mit einer Ordensfrau der B.M.V.-Schule öffnete ihr das Klosterarchiv der Augustiner Chorfrauen: Auf über 20 bislang noch nicht erschlossene Urkunden stieß sie dort. Die älteste stamme von 1288 und sei in Topzustand. Das Original in Händen zu halten, „ist wie wenn ein Archäologe eine Mumie findet.“

Die Augustiner Chorfrauen, die die B.M.V.-Schule an der  Bardelebenstraße in Essen betreiben, öffneten ihr Archiv für die Historikerin Petra Bernicke.
Die Augustiner Chorfrauen, die die B.M.V.-Schule an der Bardelebenstraße in Essen betreiben, öffneten ihr Archiv für die Historikerin Petra Bernicke. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Viele Quellen übersetzte sie aus dem Lateinischen, suchte nach Hinweisen auf das Leben der Beginen. Deren Ursprung liegt im heutigen Belgien und den Niederlanden, von wo aus sich die Bewegung ab dem frühen 13. Jahrhundert verbreitet. Die prachtvollen Beginenhöfe – oft mit Zuwendungen von Adligen und Bischöfen erbaut – sind heute Weltkulturerbe.

Frauen gerieten in Verdacht der Ketzerei

Anders in Essen, wo die frommen Frauen nicht einmal den Namen „Beginen“ verwenden. Sie leben in bescheideneren Häusern in Kettwig sowie am Zwölfling oder am Hagen. Spuren im Stadtbild haben sie nicht hinterlassen. Sechs der kleinen Konvente hat Petra Bernicke identifiziert, gut ein Dutzend Frauen habe in jedem gelebt.

Selbstbestimmt sei deren Leben nie gewesen, sagt Bernicke: Die Konvente wählten die jeweilige Äbtissin des Essener Frauenstifts zur Schutzherrin. Ihr unterstand damals neben dem Stift auch die Stadt. Während die Stiftsdamen aus dem Hochadel stammten, fanden sich in den Beginenkonventen Frauen aus Bürgers- und Handwerkerfamilien. Sie standen im Spannungsfeld zwischen Stadt und Stift; gerieten innerkirchlich schon mal in Verdacht der Ketzerei, weil sie sich in religiöse Fragen einmischten.

Gegen Geld beteten sie für das Seelenheil des Stifters

Gleichzeitig erhielten sie Geld für Gebete: Deren Stifter wollten sich für das Leben nach dem Tod wappnen und ließen die frommen Frauen für ihr Seelenheil beten. Auch seien Beginen in der Krankenpflege, später im schulischen Bereich tätig gewesen, sagt Bernicke.

Promotion zu den Beginen liegt jetzt auch in Buchform vor

„In nostram protectionem, gubernationem et correctionem suscipimus – Studien zur Entwicklung der kleinen Frauenkonvente in Essen unter der Herrschaft der Äbtissinnen“, heißt die Arbeit, mit der die Essenerin Petra Bernicke an der Ruhr-Universität Bochum promoviert wurde.

Die Doktorarbeit ist als Heft 70 der Forschungen zur Volkskunde bei MV Wissenschaft erschienen: 304 Seiten, 22,10 Euro. ISBN: 978-3-96163-170-4

Ihnen boten sich damit immerhin Perspektiven, die anderen Frauen zur damaligen Zeit verwehrt blieben: Sie waren gebildet, mussten nicht heiraten, und da sie kinderlos blieben, „drohte ihnen nicht, im Kindbett zu sterben“. Wurde allerdings eine der unverheirateten Frauen doch schwanger, musste sie das Konvent verlassen.

Bild der so frommen wie freien Frauen-WG muss korrigiert werden

Dem Bild der so frommen wie freien Frauen-WG widerspreche, dass sie sich nie aus der Abhängigkeit der Äbtissin hätten lösen können: Sie schickte Beginen aufs Altenteil, entschied Streitfragen auch gegen deren Proteste oder wandelte die Konvente in Klöster. Ihre „Studien zur Entwicklung der kleinen Frauenkonvente in Essen unter der Herrschaft der Äbtissinnen“, die jetzt als Buch vorliegen, relativieren den Mythos Beginen, doch ein fortschrittliches Leben billigt Bernicke ihnen zu.

Nach der Promotion, die sie mit „cum laude“ abschloss, habe sie „Muskelkater im Hirn“ gehabt. Ein Jahr später ist ihre Neugier schon wieder erwacht: Sie wird weiter forschen.