Essen. Nach 36 Jahren geht Dr. Rainer Kundt, Chef des Essener Gesundheitsamtes, in den Ruhestand. Er lässt seine Arbeit noch einmal Revue passieren

36 Jahre lang hat Dr. Rainer Kundt über die Gesundheit der Bürger gewacht, hat zu Impfungen und Smogalarm, Tschernobyl und diversen Grippeviren beraten. Jetzt geht der Leiter des Essener Gesundheitsamtes in den Ruhestand.

Ein paar halbgepackte Kartons stehen schon in dem schmucklosen Büro in der ersten Etage des Gesundheitsamtes an der Hindenburgstraße. Sie sind die Vorboten der nahenden Pensionierung: Dr. Rainer Kundt kann die Tage, die er noch seinen weißen Kittel überstreift und das Stethoskop umhängt, an zwei Händen abzählen. „In der letzten Arbeitswoche wird eigentlich nur noch Abschied gefeiert“, sagt er und schmunzelt.

Gift-Schredder in Kray und der vergiftete Boden in der Borbecker Zinkstraße

Dass Dr. Rainer Kundt 1984 im Essener Gesundheitsamt als Mediziner angefangen hat, war kein Zufall: „Ich habe den Studienplatz nur bekommen, weil ich mich verpflichtet habe, anschließend im öffentlichen Gesundheitswesen zu arbeiten“, erzählt er, „das war damals ein bundesweites Modellprojekt.“ Mit seinem Abidurchschnitt stand er in der Warteliste für einen Medizinstudienplatz auf Rang 36.000, „unter normalen Umständen würde ich wahrscheinlich heute noch immer warten“, sagt er lächelnd. Bodenständig und uneitel – so präsentiert sich der leitende städtische Medizinaldirektor, wie sein offizieller Amtstitel lautet, auch gegenüber seinen 150 Mitarbeitern und den Patienten.

Nachfolgerin im Gesundheitsamt wird Juliane Böttcher

Nachfolgerin von Dr. Rainer Kundt wird die bisherige stellvertretende Leiterin des städtischen Gesundheitsamtes Juliane Böttcher. Dies hat der Rat der Stadt beschlossen.

Seit ihrer Approbation als Ärztin 1991 arbeitet Juliane Böttcher im Gesundheitsamt der Stadt Essen als Amtsärztin, seit sechs Jahren im Rang einer Leitenden Städtischen Medizinaldirektorin. Mit Blick auf Eignung, Befähigung und fachliche Leistung, so heißt es in der Vorlage für den Stadtrat, „erscheint ausschließlich Frau Böttcher für die Besetzung der (...) Planstelle geeignet“.

Zu den Abteilungen im Gesundheitsamt gehören die Medizinalaufsicht, der Sozialpsychiatrische Dienst, die Demenz- und Behindertenberatung, die Betreuungsstelle, der Amtsärztlicher Dienst, die Arzneimittelüberwachung, der Infektionsschutz, Umweltmedizin, HIV und Aidsberatung, Beratung und Untersuchung bei sexuell übertragbaren Krankheiten, die Lebensmittelhygienebelehrung und der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst.

Und er hat die Ruhe weg, wie man im Ruhrgebiet so schön sagt. Dabei gab es viel Aufregungen in seiner Amtszeit: „Die Katastrophe von Tschernobyl, die ersten HIV-Fälle, die Vogelgrippe und die Schweinegrippe, der Gift-Schredder in Kray, der vergiftete Boden in der Borbecker Zinkstraße“, zählt Kundt, der auch Umwelt- und Sozialmediziner ist, nur einige Fälle auf, die ihn und sein Team in den vergangenen 36 Jahren beschäftigt haben. Teilweise waren das emotional aufgeladene Themen, die er durch vernünftige Aufklärung und Information versucht hat zu versachlichen. Genauso ruhig und sachlich geht er auch mit der aktuellen Angst vor dem Corona-Virus um.

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Gründung der Aidsberatung fiel unter seine Ägide

Auch die Gründung der Essener Aidsberatung fiel unter seine Ägide, „wir haben schnell gemerkt, dass das Thema zu komplex ist und eine eigene Beratungsstelle braucht“. Das sei in einer sehr schwierigen Zeit ein richtiger und wichtiger Schritt gewesen. Denkt er heute daran zurück, dann erscheint es ihm wie ein Wunder, „dass HIV mittlerweile so gut behandelt werden kann, dass es nicht mehr ausbricht“.

Hysterie und Ängste – damit kann der Amtsarzt gut umgehen. Selbst als nach dem 11. September 2001 plötzlich unbekanntes weißes Pulver in der Stadt auftauchte und die Angst vor Pockeninfektionen umherging, behielt Rainer Kundt trotz der Horrorphantasien mancher aufgeregter Bürger die Nerven. Und veranstaltete Pockenalarmschutzübungen.

Rainer Kundt impft am liebsten selbst: hier seinen Vorgesetzten, den Gesundheitsdezernenten Peter Renzel.
Rainer Kundt impft am liebsten selbst: hier seinen Vorgesetzten, den Gesundheitsdezernenten Peter Renzel. © OH | FOto

Die erste Maserntote nach 30 Jahren gab es in Essen

Seine großen Themen, die ihn all die Jahre umgetrieben haben, sind die Infektiologie und Impfungen. Er wird nicht müde zu betonen, wie wichtig und notwendig eine Durchimpfung der Bevölkerung ist. „Wir waren lange in Sachen Impfschutz in Deutschland Pioniere. Das Robert-Koch-Institut ist sozusagen der Papst in Sachen Infektiologie.“

Doch dann kamen die ersten Skeptiker, die sich weigerten, ihre Kinder gegen Mumps, Masern, Röteln oder Keuchhusten zu schützen. „Aus medizinischer Sicht ist das ein echter Supergau“, sagt er und erzählt, dass ausgerechnet in Essen die erste Maserntote in Deutschland nach 30 Jahren zu beklagen war. Das war 2017. „Für mich persönlich war das sehr schlimm, wie eine persönliche Niederlage“, ist er darüber immer noch fassungslos.

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Von 500 Impfgegnern niedergeschrien

Sein zweites negatives Erlebnis in Sachen Impfungen war eine Veranstaltung mit 500 „militanten“ Impfgegnern in der Lichtburg: „Die haben mich praktisch niedergeschrien. Noch nie ist mir soviel Hass entgegengeschlagen.“ Vier Sicherheitsleute mussten ihn aus dem Kinosaal geleiten, „das werde ich im Leben nicht vergessen“.

Den Klinikalltag hat er nie vermisst, „ich bin im Gesundheitsamt immer am Puls der Zeit. Und habe Kontakt zu so vielen unterschiedlichen Behörden, Kliniken, Institutionen wie Menschen. Ich habe einen wunderbaren Beruf.“ Ob ihm das fehlen wird? „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich das noch nicht“, sagt er.

Aber so ganz aufhören wird der fünffache Vater und frischgebackene Opa nicht. „Ich werde noch weiter als Arzt die Kardiosportgruppen der Espo begleiten und an der Kupferdreher Steinbeis Hochschule meine Expertise einbringen.“ Aber vorher geht Rainer Kundt erst einmal auf Reise: Eine Männertour mit Sohn und Schwiegersohn in den Kosovo. Braucht man dafür Impfungen? „Ich bin natürlich durchgeimpft.“