Essen. Illegale Graffiti-Sprayer verursachen in Essen jedes Jahr Millionenschäden. Ein Graffiti-Experte der Kripo sagt: Die Sprayer werden immer älter.
Kaum hatten sie die schicke und nagelneue Kampmannbrücke über die Ruhr mit einem feierlichen Festakt freigegeben, da hatten Graffiti-Sprayer schon zugeschlagen und das Bauwerk arg verunziert. Während sich die meisten Sprayer für Künstler halten, sehen genervte Bürger in ihrem Tun etwas ganz anderes: Schmiererei, Sachbeschädigung und Vandalismus. Das Delikt Graffiti-Kriminalität ist in Essen so verbreitet, dass die Kriminalpolizei längst einen Spezialisten abgestellt hat. Seine Beobachtung: „Auch in der Graffiti-Szene macht sich der demografische Wandel bemerkbar, die größte Tätergruppe sind nicht mehr Jugendliche, sondern Erwachsene.“ Der älteste erwischte Täter war mit 73 Jahren schon ein Graffiti-Opa“.
Tendenz sinkend: Essener Polizei registrierte zuletzt zwischen 620 und 800 Fälle
Der Kriminalhauptkommissar, dessen Identität das Präsidium aus naheliegenden Gründen schützt, beschäftigt sich schon seit bald zwanzig Jahren mit der Essener Sprayer-Szene. Kommt es zu Strafverfahren, erkennt das Gericht die Expertise des „nicht-amtlichen Fachexperten“ an.
Seine Datenbank wächst von Jahr zu Jahr. Obwohl die Fallzahlen gesunken sind, hat der „Graffiti-Kommissar“ alle Hände voll zu tun. Zwischen 2008 und 2012 registrierte der Ermittler noch zwischen 920 und 1370 angezeigte Graffiti-Delikte im Jahr. In den darauffolgenden fünf Jahren (2013–2018) waren es deutlich weniger: zwischen 620 und 800.
Genauso schwankend wie die Graffiti-Kriminalität fällt im Zeitraum 2008 bis 2018 die Aufklärungsquote aus. In guten Jahren werden 38 Prozent der Tatverdächtigen erwischt, in schlechten nur 15,8 Prozent.
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Die Tatorte verteilen sich aufs ganze Stadtgebiet, Graffiti findet sich auf Fassaden, Schaltkästen, Unterführungen und besonders großflächig auf Lärmschutzwänden. Die höchste Anziehungskraft auf die Sprayer üben jedoch U-Bahnen und Busse der Ruhrbahn sowie die Züge der Bahn aus. Einen vollbesprühten Zug durch Essen und das Ruhrgebiet rollen zu sehen, das ist für die Verursacher eine besondere Ehre – und ein echter Kick.
Für die Bahn sind Graffiti „ärgerlich“ und „ein Kampf gegen Windmühlen“
Auch die für Bahnhöfe und Bahnanlagen zuständige Bundespolizei führt genau Buch. 2019 gab es allein in Essen 61 Fälle von Graffiti-Kriminalität (davon 35 an Zügen), im Jahr davor 62 (30) und 2017 waren es 44 Fälle (23). DB Regio NRW investiert jährlich rund fünf Millionen Euro in die Beseitigung von Graffiti-Schäden. Ärgerlich aus Sicht der Fahrgäste: Wenn Züge ausfallen, sind schlimmstenfalls sie es, die auf den Bahnsteigen in die Röhre schauen. „Es ist ein Kampf gegen Windmühlen“, sagt ein Bahnsprecher.
In einem der spektakulärsten Fälle der letzten Jahre war das Ruhrbahn-Depot an der Schweriner Straße (Stadtgrenze Mülheim) Ziel eines „Graffiti-Angriffs“. Den drei Tätern gelang es, einen kompletten Stadtbahn-Zug vollzusprayen – im Szene-Jargon: „Full train“. Und das nicht etwa im Schutze der Dunkelheit, sondern am helllichten Tage, in der Mittagszeit an einem Sommer-Wochenende im Jahr 2017. „Die Aktion war kein spontaner Einfall aus einer Bierlaune heraus, sondern sorgfältig und aufwendig geplant“, sagt der Kriminalhauptkommissar.
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„Es geht um den Kick, etwas Illegales zu tun und nicht erwischt zu werden“
Um den mit Nato-Draht besonders gesicherten Zaun unverletzt überwinden zu können, hätten die Täter Badezimmer-Matten über den Stacheldraht gelegt, Tritthilfen mitgeführt und die mit Lackdosen gefüllten Plastikbeutel in den Draht gehängt. Zuerst sei den gelben Wagen in der Abstellgruppe ein schwarzer Untergrund verpasst worden, dann folgten filigrane Blätter, Zweige, eine Art Raubkatze – und nach missglückter Flucht die Festnahme durch die Polizei.
Der inzwischen verurteilte Haupttäter, damals 33, hing bei der Flucht in fünf Metern Höhe an einer Mauer. Eine akrobatische Meisterleistung: Beim Absturz hätte er sich die Beine brechen können. Seine beiden Komplizen sprangen auf die Straße und zwangen ein Auto zu einer riskanten Vollbremsung.
Für die Ermittler zeigt dieser Fall: „Die Bereitschaft sich selbst, aber auch andere zu gefährden, ist sehr groß.“ Auf hohen Türmen und Brücken, überhaupt an riskanten Stellen zu sprayen, erhöht den „Ruhm“, den „Fame“, eines Graffiti-Sprayers. „Es geht ganz klar um den Kick“, sagt der Kommissar, „etwas Illegales zu machen und sich nicht erwischen zu lassen“.
Serientäter: 88 Schmierereien gingen auf das Konto eines Sprayers – in nur einem Jahr
Manche scheinen vor Tatkraft geradezu zu strotzen. 2015 legte ein einziger Sprayer eine Serie mit 76 Graffiti hin. 2014 schaffte jemand 86 und 2012 sogar 88 Motive: Es sind die drei höchsten jemals registrierten Tatserien.
Die Kehrseite: „Dass Täter gefasst werden, passiert zu unserem Bedauern leider nur äußerst selten“, sagt eine Ruhrbahn-Sprecherin. Ähnlich wie bei der Deutschen Bahn geht die Entfernung von Graffiti-Schäden auch bei der Ruhrbahn ins Geld – in der Regel zwischen einem hohen vier- und einem niedrigen fünfstelligen Euro-Betrag pro Zug. Bei der Bundespolizei gibt’s eine Faustformel für Schäden: pro Quadratmeter 50 Euro.
Die Ruhrbahn wie auch DB Regio NRW unternehmen alles, um keine „beschmierten“ Wagen einzusetzen. „Um den Verursachern keine Lobby zu geben, werden äußerlich beschmierte Fahrzeuge grundsätzlich sofort aus dem Verkehr gezogen und auch bis zur Entfernung des Graffitis nicht wieder eingesetzt“, sagt Ruhrbahn-Sprecherin Sylvia Neumann.
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Polizist: „Sprayer haben Geld für Spraydosen, aber keins für Schadensregulierung“
Gerne treten Graffiti-Sprayer in größeren Gruppen, ja, in Rudeln auf. In Bochum-Ehrenfeld, so Volker Stall von der Bundespolizei, seien sie neulich auf einen Bahnsteig gestürmt und hätten binnen weniger Minuten zwanzig Quadratmeter eines Zuges beschmiert. „Bombing“ nennt die Szene solche Attacken.
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Dass Tatverdächtige erwischt werden, bedeutet längst noch nicht, dass der Geschädigte den Schaden ersetzt bekommt. Nach Ruhrbahn-Angaben scheitere die Vollstreckung meistens an der „Leistungsfähigkeit des Beklagten“. Der Graffiti-Experte der Essener Polizei drückt es prägnanter aus: „Illegale Sprayer haben meistens Geld für Spraydosen, aber keins für die Schadensregulierung.“