Essen. Kevin (24) verbrachte seine Jugend in Heimen, auf der Straße und im Gefängnis: Ein Projekt der Jugendberufshilfe ändert nun seinen Lebenslauf.

Kevin vergleicht sein Schlüsselerlebnis gerne mit einer bekannten Szene aus dem ersten Harry Potter-Film. Wie auch der Zauberlehrling habe er den riesigen Berg Briefe nicht mehr länger ignorieren können. Nur dass in seinem Fall nicht die Zauberschule Hogwarts sondern das Essener Jobcenter Absender der zahllosen Briefe war.

Unter all den maschinell erstellten Mahnungen findet sich auch eine bunte Postkarte der Jugendberufshilfe. Einzig das Wörtchen „Hömma“ steht in Graffiti-Lettern auf der Karte. Hintendrauf gedruckt sind einige Ansprechpartner für das Projekt „Easi Ap“. Menschen, denen der 24-Jährige heute sehr dankbar ist: Aktuell holt Kevin seinen Hauptschulabschluss nach, hat in Katernberg eine eigene Wohnung, will eine Ausbildung zum Fach-Lageristen machen.

Maßnahmen des Jobcenters fruchteten bei Kevin nicht mehr

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Dabei gehörte er zu jener Klientel, bei der scheinbar nichts mehr fruchtete: Auf die Maßnahmen des Jobcenters habe er keine Lust mehr gehabt. „Zu viele kaputte Leute“ treffe man da, erzählt Kevin, „da sind viele drogenabhängig, mit denen wollte ich nichts zu tun haben.“

Kaputt war er damals selbst genug: Schon im Alter von fünf Jahren habe er „gezockt“, war schnell süchtig nach Computerspielen, erzählt der Essener. Im echten Leben kommt er nicht zurecht, wird schon in der Grundschule gemobbt. In der Folge wird er aggressiv, prügelt sich häufig. Hyperaktiv, bescheinigen die Ärzte. Tabletten sollen ihn ruhig stellen. Er bricht die Schule ab, kifft viel, kommt mit 15 Jahren in eine Betreuungseinrichtung für Jugendliche. „Da kam ich auch nicht zurecht und bin irgendwann einfach ausgeflippt“, erinnert sich Kevin. Die ganze Wohnung habe er zerlegt und sei daraufhin rausgeflogen.

Mit 18 Jahren wird Kevin zum ersten Mal Vater

Mitten im Chaos verliebt sich Kevin. Zeitweise lebt er mit seiner Freundin auf der Straße. Manchmal übernachten die beiden in der Essener Notschlafstelle für Jugendliche, „Raum 58“. Mit 18 Jahren wird Kevin zum ersten Mal Vater. Die Geburt seines zweiten Kindes ein Jahr später erlebt er nicht, da sitzt er im Gefängnis. Er sei zu oft schwarz gefahren, sagt Kevin, außerdem ist er der schweren Körperverletzung und einiger weiterer Delikte angeklagt. „An manche Dinge, die mir da vorgeworfen wurden, konnte ich mich gar nicht erinnern“, erzählt er. Seine Freundin trennt sich von ihm, während er hinter Gittern ist. Noch immer kämpft er dafür, dass sie seine Vaterschaft anerkennt. Die gemeinsamen Kinder leben in einer Pflegefamilie.

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„Ich wollte an mir arbeiten“, sagt Kevin heute. Eine Sozialarbeiterin des „Easi Ap“-Projekts überzeugt ihn, im Jugendzentrum am Palmbuschweg vorbeizuschauen. Ohne Druck, Sanktionen oder Anforderungen. Bei „Easi Ap“ bestimmen die Teilnehmer selbst, welche Projekte sie realisieren wollen. Sie dürfen gärtnern, kochen, schreiben, boxen: „Man muss nur wollen“, bringt es Kevin auf dem Punkt. Er nutzt die auf zwölf Monate befristete Projektzeit, um ein Buch zu schreiben und kellnert im projekteigenen Café. Vor allem aber steht er wieder morgens früh auf, nimmt regelmäßig Mahlzeiten zu sich.

„Vorderstes Ziel“, sagt Kerstin Blenn von „Easi Ap“, „ist es, den Jugendlichen eine Tagesstruktur zu geben und sie wieder ans Sozialsystem anzudocken.“

Jugendliche fühlen sich wertgeschätzt und dürfen selbst entscheiden

Außerdem lernt Kevin über das Projekt zwei Gleichgesinnte kennen, Amira und Sebastian. Ihre Geschichten sind ähnlich. Die 24-Jährige bricht nach der Schule zwei Ausbildungen wieder ab, hatte bis vor zehn Monaten weder Obdach noch Perspektive.

Sebastian hat eine Jugend voller Gewalt hinter sich: Er prügelt sich viel, schwänzt die Schule, widersetzt sich Polizisten. Auch er muss eine Strafe im Jugendarrest verbüßen und Sozialstunden leisten. Sebastian sagt, er habe mit „Easi Ap“ Sozialleben gelernt. Amira arbeitet mittlerweile ehrenamtlich im Tierheim, will bald mit einer Ausbildung beginnen. Mit Unterstützung einer Sozialarbeiterin hat sie mittlerweile eine Wohnung in Kray gefunden. In ihrer Projektzeit habe sie sich zum ersten Mal wertgeschätzt gefühlt, sagt Amira, „nicht so von oben herab wie die meisten Menschen uns angucken.“

Eine Einschätzung, die Kevin teilt: „Wir sind ja nicht faul oder blöd. Aber es gibt nun mal Leute wie uns mit einer scheiß Vergangenheit.“