Essen. Dietrich Hilsdorf inszeniert „Kain und Abel“ am Aalto-Theater. Das Oratorium ist die 20. Arbeit des einst skandalumwitterten Regisseurs in Essen.
Der erste Mord der Menschheitsgeschichte findet vor etwas abgeblätterter Barockkulisse statt. Den geschlossenen Raum hat Dietrich Hilsdorf mit Bühnenbildner Dieter Richter erdacht: Ein langer Tisch mit schwerem Brokattuch, ein Bühnensteg, der weit in den Opernsaal hineinragt, kein Ausgang für die Sänger. „Geschlossene Gesellschaft“ sagt der Regisseur. Aber nicht Sartre steht auf dem Programm, sondern Alessandro Scarlattis Oratorium „Kain und Abel oder der erste Mord“.
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„Wir wollen, dass es etwas Besonderes wird“, sagt Hilsdorf
Obwohl das Oratorium des italienischen Komponisten selbst Musikkennern weitgehend unbekannt sein dürfte, ist dem Stück das größtmögliche Publikumsinteresse schon jetzt gewiss. Denn der Abend wird die 20. Hilsdorf-Inszenierung am Aalto-Theater sein. Der Regisseur, der mit der Geschichte des Essener Musiktheaters so eng verbunden ist wie kein anderer, strahlt voller Vorfreude: „Wir wollen, dass es etwas Besonderes wird.“
Fast sieben Jahre hat die Rückkehr ans Aalto-Theater gedauert. 2013 hat Hilsdorf mit Verdis „I masnadieri“ seine vorerst letzte und sage und schreibe 15. Verdi-Oper seiner Karriere in Essen inszeniert. Mit dem neuen Intendanten Hein Mulders verschwand der Name Hilsdorf lange Jahre von der Besetzungsliste. „Ich habe mir immer gewünscht, dass Herr Mulders mich mal wieder nach Essen holt“, sagt Hilsdorf.
Oratorium über den ersten Mord der Menschheitsgeschichte
Bei Scarlattis Oratorium „Kain und Abel“ müssen sich beide Seiten dann schnell handelseinig geworden sein. Das Werk ist eine Rarität, bislang an so gut wie keinem deutschen Opernhaus gespielt. Es erzählt die biblische Geschichte vom Brudermord. Kain erschlägt Abel, weil dessen rituelle Gabe von Gott vorgezogen wird. Am ersten Mord der Menschheitsgeschichte entlang wird die Frage nach der Erbsünde, die Existenz des Bösen verhandelt, es geht um Schuld und Vergebung und der Frage, warum ein liebender Gott Ausbrüche von Gewalt immer wieder zulässt.
Hilsdorf will mit diesem „Psychothriller aus dem 18. Jahrhundert“ keine fertigen Antworten liefern, er will sein Publikum wie immer in produktive Spannung versetzen. Unruhe schaffen, das ist für ihn noch immer der Sinn des Theaters. Und wenn andere bei der Probe „Ruhe!!!“ rufen, dann sagt Hilsdorf: „Quatsch. „Was wir aber brauchen, ist die Stille. Weil auch Stille eine Art von Musik ist.“
Das Publikum teilte sich in Bravo- und Buh-Rufer
„Kain und Abel“ im Aalto
„Kain und Abel“ feiert am Samstag, 25. Januar, 19 Uhr, im Aalto-Theater Premiere. Weitere Vorstellungen: 30. Januar, 20./29. Februar, 4./8./13. und 20. März sowie am 3. Mai. Tickets unter 8122-200 und www.theater-essen.de
Bei der Einführungsmatinee am Sonntag, 19. Januar, 11 Uhr, kann man im Aalto mehr über die anstehende Premiere erfahren. Neben Hilsdorf sind auch Bühnenbildner Dieter Richter, Kostümbildnerin Nicola Reichert und Dirigent Rubén Dubrovsky dabei
Es klingt ein bisschen widersprüchlich für einen Regisseur, der mal als echter Theaterberserker galt. Gefürchtet für seine Wutausbrüche und seine laute, bisweilen auch lodernde Energie, die Probebühnen in explosive Stätten verwandeln konnte. Legendär sind auch die Premieren, bei denen sich das Publikum in jubelnde Bravo- und erzürnte Buhrufer teilte. Fast alle dieser Abende wurden im Laufe der Zeit zu Kultinszenierungen, die sich manchmal 20 Jahre und länger auf dem Aalto-Spielplan hielten. Wie Hilsdorfs legendäre „Aida“. Oder Bizets Carmen, die der Regisseur an eine Gelsenkirchener Tapas-Theke verlegte. Das Publikum war manchmal hin- und hergerisssen, kalt gelassen haben seine Inszenierungen nie.
Hilsdorf kramt bekritzelte Zeitungsausschnitte aus einem Hefter, auf denen empörte Zuschauer ihren Unmut mit bösen Kommentaren kundgetan haben. Bis heute scheint es dem 72-Jährigen Freude zu bereiten, die Erinnerung an diese teils wilden und umstrittenen Opernabende wach zu halten. Kontroversen aus dem Weg zu gehen, war jedenfalls niemals seine Sache. Der beabsichtigte Skandal, die kalkulierte Provokation war aber genauso wenig sein Ding. So polternd Hilsdorf auf Proben auch sein kann, so penibel und akribisch ist gleichzeitig sein Umgang mit dem Stoff. Der leidenschaftliche Opernmensch gilt als ungemein genauer und detailverliebter Regisseur, dessen Vorbereitung weit über das Partituren-Studium hinaus geht. Die Genesis-Lektüre im Alten Testament hat diesmal genauso dazugehört wie Sartre. Andere bekennend atheistische Autoren wie Jose Saramago und Shaw hat Hilsdorf ebenfalls hinzugezogen, um dem Stück Schliff zu geben. Und doch müsse „kein gläubiger Christ Angst haben, da reinzugehen“, beruhigt Hilsdorf mit schelmischem Lächeln. „Das Stück verhandelt sehr vorsichtig Fragen, die man sich im Zeitalter der Aufklärung auch schon gestellt hat.“
„Ich kann immer noch den Berserker rauslassen“
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So sitzen sie alle am großen Tisch zusammen: Adam und Eva, ihre Söhne Kain und Abel. Auch Gott und der Teufel sind stets mit von der Partie, in Hilsdorfs Sicht auf Scarlattis Oratorium gibt es kein Entrinnen. Ein Kammerspiel. Ohne Chor und ohne Statisten, die in Hilsdorf-Opern schon denkwürdige Auftritte hatten. Die Nackten und Grellen, sie haben allmählich aber ausgedient. Hilsdorf sucht keinen Aktualisierungs-Vorwand, er will keine Figuren in Jeans und Anzügen zeigen. „Wo Barock draufsteht, ist auch Barock drin“, versichert der Regisseur. Auch wenn er den Abend in Essen erst mal irritierenderweise mit „The First Garden“, einem musikalischen Experiment von Stevie Wonderbeginnen lässt. Wenn der Eiserne Vorhang dann runtergeht, wird man wissen, dass das Paradies längst verloren ist.
Hilsdorf hat die Lust am Querdenken nicht verloren. „Ich kann auch immer noch den Berserker rauslassen, wenn im Betrieb was nicht läuft“, versichert der 72-Jährige. Die Arbeit im Aalto verlaufe derzeit aber geradezu harmonisch, vertraut und doch spannend, mit neuen Ensemblemitgliedern und zwei hochkarätigen Countertenören. „Man freut sich auf die Probe“, sagt Dietrich Hilsdorf. Von Ermüdung keine Spur. „Wir sind nur besser und genauer geworden!“, lacht er und ist schon auf dem nächsten Weg zum nächsten Gespräch mit Dirigent Rubén Dubrovsky.