Essen. Die Pharmaziehistorikerin Sylvia Wagner hat nachgewiesen, dass an Heimkindern des Franz Sales Hauses noch bis 1969 Arzneimittel getestet wurden.
Die Arzneimittelversuche an Heimkindern des Franz Sales Hauses in den 1950er und 1960er Jahren haben offenbar ein größeres Ausmaß als bislang angenommen. Die Pharmaziehistorikern Sylvia Wagner hat in ihrer jetzt veröffentlichten Dissertation nachgewiesen, dass der damalige Heimarzt Dr. Waldemar Strehl an 44 Kindern der Einrichtung Ende der sechziger Jahre das Präparat „Piracetam“ ausprobiert hat. Damals firmierte das Medikament unter der Versuchsbezeichnung „UCB 6215“. „Es ist ein Unrecht, wenn die Versuche nicht mit Einwilligung der Probanden oder deren gesetzlichen Vertretern geschehen sind“, sagt Sylvia Wagner. Sie geht davon aus, dass es eine solche Einwilligung nicht gegeben habe.
Ob das Medikament die Heimkinder geschädigt haben könnte oder nicht, spiele in der juristischen und ethischen Bewertung zunächst keine Rolle. „Denn der verantwortliche Heimarzt hat bewusst in Kauf genommen, dass das Präparat die Kinder schädigt“, argumentiert Wagner, die von Hause Apothekerin ist. Sie verweist auf den 1972 von Strehl selbst verfassten Bericht zu den Piracetam-Tests an den Kindern des Franz Sales Hauses. Ihren Angaben zufolge wird Piracetam heute in erster Linie bei demenzkranken Personen angewendet. „Es soll die Hirndurchblutung verbessern.“
Piracetam sei erst Mitte der 1970er Jahre als Arzneistoff zugelassen worden – allerdings mit erheblichen Einschränkungen. „Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sollten Piracetam nicht einnehmen, heißt es in einer Beschreibung des Präparats. Also genau die Altersgruppe, an der Dr. Strehl es im Franz Sales Haus getestet hat. Heimkinder im Franz Sales Haus und anderswo seien damals nicht nur Opfer körperlicher, psychischer und sexueller, sondern auch „medikamentöser Gewalt“ gewesen, schlussfolgert die Wissenschaftlerin.
Schreikrämpfe und gelähmte Zungen, Nackensteifigkeit und Starrkrampf
Wehrlose Heimkinder als Versuchskaninchen skrupelloser Anstaltsärzte und Pharmaunternehmen – eine beklemmende Vorstellung: Die Wissenschaftlerin hatte illegale Medikamentenversuche an Heimkindern in Deutschland bereits vor drei Jahren enthüllt. Das Essener Franz Sales Haus war damals nicht die einzige Einrichtung, die in diesen Skandal verwickelt war.
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Bei Nachforschungen für ihre Doktorarbeit hatte Sylvia Wagner in den Archiven des Pharmakonzerns Merck herausgefunden, dass der Heimarzt Dr. Waldemar Strehl bereits Ende der 1950er Jahre an 28 Kindern des Franz Sales Hauses im Alter zwischen fünf und 13 Jahren das Präparat „Decentan“ getestet hat. Ein Mittel, das bei Psychosen und Schizophrenie eingesetzt wurde. Zum Teil habe Strehl eine achtfach höhere Dosierung vorgenommen, als von Merck empfohlen. Akkurat listete er danach auf, was der Arzneistoff mit der Versuchsbezeichnung „T 57“ anrichtete: Schreikrämpfe und gelähmte Zungen, Nackensteifigkeit und Starrkrampf, von kalten Händen, Blickkrämpfen und unsicherem Gang war ebenso die Rede.
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Das Franz Sales Haus hat den Wissenschaftler Dr. Uwe Kaminsky von der Ruhruniversität Bochum damit beauftragt, die schaurigen Arzneimittelstudien sowie Fälle von Medikamentenmissbrauch gründlich aufzuarbeiten. „Die Ergebnisse werden im nächsten Frühjahr vorliegen“, sagt eine Sprecherin des Franz Sales Hauses, und fügt hinzu: „Wir sind sehr daran interessiert Licht ins Dunkel zu bringen, um den Opfern gerecht zu werden und ihnen eine Stimme zu geben.“
Anstaltsarzt diagnostizierte „die Neigung zum Lügen, Stehlen und Herumquerulieren“
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In den Mittelpunkt der Aufarbeitung rückt immer mehr das Wirken des Heimarztes Dr. Waldemar Strehl (Jahrgang 1916), einem „Facharzt für Nerven- und Gemütsleiden“, der von Mitte der 1950er Jahre bis zum Frühjahr 1969 Leitender Arzt im Franz Sales Hauses war. „Erst durch die Schilderungen von Heimkindern ist er für uns zum Täter geworden“, berichtet die Sprecherin. Sylvia Wagner weist in ihrer Dissertation nach, wie brutal der Heimarzt gewesen sein muss. Auch bei Mitarbeitern sei er wegen seines Auftretens gefürchtet gewesen. Geradezu berüchtigt seien seine „Kotz- und Betonspritzen“ gewesen. Erstere enthielten eine Mischung aus einem starken Beruhigungsmittel und einem Brechmittel und seien auch gezielt eingesetzt worden, um Kinder zu bestrafen. Die „Betonspritzen“ des furchtbaren Heimarztes sollen zu einer „vollständigen Bewegungsunfähigkeit“ geführt haben.
Selbst starke Opiate verabreichte Strehl, um die „Zöglinge“ ruhig zu stellen. Bei den Heimkindern, die eigentlich Zuwendung, menschliche Wärme und Förderung benötigt hätten, diagnostizierte Strehl „charakterliche Abartigkeiten, wie die Neigung zum Lügen, Stehlen und Herumquerulieren“.